Monatstugenden

 


SCHÜTZE - Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden

(Quelle: Alnatura-Magazine/Christoph Lehmann)

"Adventszeit, eine besinnliche Zeit? Es ist die dunkle Zeit im Jahr, und wir sind eingeladen, uns mit tief gehenden Themen zu beschäftigen, ein inneres Licht zu entzünden. Doch das fällt nicht immer leicht: Blinkende Lichter, gehetzte Konsumenten, aggressives Werben in den Schaufenstern, das alles lenkt ab und lässt einen nicht zur Besinnung finden. Trotzdem: Ich möchte Sie einladen, sich Gedanken zu machen. Über Gedanken.

Ein altes schlesisches Volkslied, "Die Gedanken sind frei", beschreibt, dass in Situationen von äußerlicher Unterdrückung und Unfreiheit die Gedanken es sind, die sich nicht einsperren lassen. In der zweiten Strophe heißt es: "Ich denke, was ich will ..." Aber ist das so? Ich kenne das Phänomen, dass sich die Gedanken manchmal ungestüm aneinanderreihen, Assoziationen hervorrufen, ständig sinnvolle oder auch weniger sinnvolle Bezüge herstellen, sogar manchmal auch zur "Knäuelbildung" neigen, die ich nicht "will" und damit eher ein "Zuviel" an Freiheit und Eigenleben empfinden lassen. Versuchen wir, uns auf einen Gedanken zu konzentrieren, dann braucht es manchmal richtig Arbeit, Strenge und das Überwinden der Ablenkung, um ihn festzuhalten. Sie kennen es sicher auch: Sie haben einen "vagen Gedanken", eine Intuition, und wenn es gelingt, diesen zu entwickeln und auszuformen, unter großer Anstrengung – dann kommt etwas Neues in die Welt, was Begriffe braucht, um es handhabbar zu machen.

Rudolf Steiner beschreibt in seiner Philosophie der Freiheit: "Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende Erleben eines rein geistigen Inhaltes" (GA 004, S.146). Da sind wir als Menschen schöpferisch und zeigen uns auch als Geistwesen.

"Das habe ich nicht begriffen", sagte mir meine staunende Patentochter, als ich versuchte, ihr einen bestimmten Sachverhalt zu erklären. Bei weiterem Forschen, was es denn sei, was da schwierig zu begreifen für sie war, merkten wir, dass ich Worte benutzt hatte, die sie noch nicht kannte. Darum konnte sie nicht "be-greifen", sich nicht "vor-stellen", worum es ging. Dann habe ich mich darum bemüht, meine Gedanken noch einmal besser und mit anderen Begriffen zu erklären. Zum Glück ist es mir gelungen, und ich hatte den Eindruck, wir haben uns "verstanden".

Damit wir einen Gedanken halten können, brauchen wir Begriffe. Diese Begriffe sind allgemeingültig, soweit die Menschen, die mit ihnen umgehen, die gleichen Wahrnehmungen oder Erfahrungen mit ihnen verbinden. Die Vorstellung, die ein Mensch sich innerlich bildet, wenn er einen Begriff hört, steht zwischen Wahrnehmung und Begriff. Wenn der Begriff also nicht klar ist, wird die Verständigung schwierig. Vielleicht kennen Sie das wunderbare Spiel "Teekesselchen", bei dem es darum geht, einen Begriff zu erraten, der mit verschiedenen Bedeutungen belegt ist. Nehmen wir das Beispiel "Bank". Und selbst wenn wir uns auf eine Bedeutung des Wortes einigen, dann ist es immer noch ein Unterschied, wie so eine Bank aussieht. Die Vorstellung ist dann eher ein individualisierter Begriff, denn was sich ein Mensch vorstellt, das bleibt in seiner Gänze nur ihm selbst zugänglich. Wir anderen können uns da nur empathisch nähern, aber vollständig werden wir es nicht schaffen. Wir hören es ja immer wieder, wenn ein begeisterter Mensch erzählt: "Du kannst es dir nicht vorstellen, es war unglaublich ...!"

Um das Leben noch etwas komplexer und bunter zu gestalten, sind wir auch noch mit Gefühlen ausgestattet worden. Wenn wir uns schon einigermaßen auf den Begriff "Bank" einigen konnten, so sind doch die Gefühle, die wir damit verbinden, ganz individuell. Hätten wir das Gefühl nicht, wären wir gleichgültige Wesen. Wir alle haben das Gefühl als Indikator zur Verfügung: Ist eine Situation stimmig oder "schräg"? Wer kennt es nicht, das berühmte Bauchgefühl? Und manchmal verführt es auch. Bei wichtigen Entscheidungen folge ich immer dem alten Wahlspruch: erst einmal darüber schlafen. Während des Schlafes können sich die Wertewelten noch einmal verändern und ein erstes Bauchgefühl läutern. Das ist hochindividuell. Also sind wir mit den Gedanken und Begriffen mit der äußeren Welt verbunden, mit dem Gefühl ganz in unserem eigenen Wesen. Daher müssen wir einfach, manchmal wehmütig, anerkennen: Wir leben alle in unseren eigenen Wirklichkeiten.

Der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun empfiehlt zur Klärung der eigenen Gefühle und Gedanken die Methode des "inneren Teams". Es ist eine Metapher für die "inneren Mitarbeiter" als Team und dessen Leiter, bei dem es darum geht, sein "inneres Team oder Parlament" gut kennenzulernen, es wertzuschätzen und – es zu führen.

"Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden." Das ist das pessimistische Resümee, das Dürrenmatt bei seinen Physikern zieht, die sich als Atombombenschöpfer aus Angst vor ihrer eigenen Erfindung in die Psychiatrie verkriechen. Das war zu Zeiten der Hochphase des Kalten Krieges. Wenn aber Gedanken zu Sprache werden (ein höherer Hörbarkeitsgrad des Gedankens), so wird ein sehr Intimes plötzlich öffentlich, und das ist auch nicht immer angenehm, denn nichts ist so irreversibel wie das gesprochene Wort. Ist es erst raus, erlangt es Wirkung. Die deutsche Sprache bietet da viele Beispiele: "Da sieht man, wes Geistes Kind jemand ist." Eine Andeutung auf eine höhere Instanz, einen Impuls, der in uns lebt.

Vor dem Hintergrund der voranschreitenden Individualisierung der Menschen wird eine der wichtigsten Disziplinen sein, Bewusstsein für die verschiedenen Wirklichkeiten zwischen uns Menschen zu erlangen. Und nicht die eigene Wirklichkeit als die allgemeingültige Wahrheit hinzustellen. Es geht darum, eher mit einer Frage aufzuwarten, als das eigene Urteil zu fällen und dann als allgemeingültig anderen überzustülpen. Denn die Frage öffnet, während das Urteil abschließt. Oder, um noch weiter zu gehen: einfach nur schweigen und nach-sinnen. Vielleicht entwickeln wir so das richtige Wahrheitsempfinden."

SKORPION- Geduld wird zu Einsicht

Quelle: Alnatura-Magazine/Jost Schieren

Das Merkmal unserer Zeit und Kultur ist die Schnelligkeit. Angetrieben wird diese Schnelligkeitseuphorie von der großen Leistungskraft der Maschinen, die in den Bereichen der Produktion, Kommunikation und Fortbewegung alle Vorgänge der Zivilisation enorm beschleunigen, sodass wir die Grenzen von Raum und Zeit kaum mehr bemerken. Wir können mit Autos, Zügen und Flugzeugen, in denen unsere "langsamen" Körper gemütlich sitzen, die ganze Welt kurzfristig erreichen. Und mittels der Computertechnologie können wir in einem Sekundenbruchteil einen Datenaustausch rund um die Welt generieren.

So wird die Schnelligkeit zur Gewohnheit und prägt unseren Lebensstil und unser Handeln. Wir werden ungeduldig, wenn wir Wartezeiten hinnehmen müssen. In der Sprache der Ökonomie geht es um Effizienz, und es gilt der Satz: "Zeit ist Geld!". Wir haben längst begonnen, das Paradigma der Schnelligkeit mehr und mehr als unhinterfragten Wert zu akzeptieren, und übertragen ihn auf Bereiche, wo Schnelligkeit eigentlich nicht hingehört. Nahrungsmittel sollen immer schneller und in größeren Mengen hergestellt werden, dabei werden die natürlichen Reifungsprozesse zum Teil ignoriert und die biologischen Grenzen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Züchtung und Gentechnik expandiert. Zudem werden unbedacht Ressourcen genutzt, um saisonunabhängig alles allen und jederzeit verfügbar zu machen. In den Bereichen Erziehung und Bildung verhält es sich ähnlich. In den vergangenen Jahren sind infolge von "PISA" und "Bologna" große Umbrüche eingetreten, die nach dem Vorbild der Ökonomie zu einer Effizienzsteigerung des Bildungsoutputs führen sollen. Der damit einhergehende Stress für Kinder, Eltern und Lehrer wird vielfach beklagt. Und auch wenn es am Ende nur auf ein flaches Halbwissen hinausläuft, so wird doch das Ziel, immer mehr in immer kürzeren Zeiträumen zu lernen, ungemindert verfolgt. Auch der scheinbar autonom zur Verfügung stehende Bereich der Freizeitgestaltung unterliegt aufgrund der medialen Überflutung und der lockenden Werbungsversprechen der Freizeitindustrie der Herausforderung, eine Aktivität oder Reise oder irgendwie geartete Unterhaltungssequenz an die nächste anzuschließen. Begriffe wie Muße und Müßiggang werden dann schon eher mit Langeweile assoziiert und können kaum einen Eigenwert für sich beanspruchen. So dominiert die Schnelligkeitsfaszination unser gesamtes Alltagsleben.

Dabei wird allenthalben vergessen, dass das Schnellste, was uns jederzeit und allerorten zur Verfügung steht, unser Denken ist. Allein dieses gewährleistet, dass wir die Dinge der Welt unmittelbar zu erkennen und zuzuordnen in der Lage sind. Das Denken ist es, das unserem Dasein die Kontinuität unseres raum-zeitlichen Bewusstseins gibt. Allein nachts, wenn wir schlafen, zieht es diese bewusstseinsbildende Kraft zurück und schenkt uns die Gnade der Selbstvergessenheit, nur um am Morgen sogleich wieder genau dort anzuknüpfen, wo es sich am vorangegangenen Abend zurückgezogen hat.

Inzwischen ist allerdings der technologische Fortschritt so weit gediehen, dass die rein mechanische Seite des Denkens durch Computer kopiert und im Hinblick auf die Schnelligkeit sogar überstiegen werden kann. So konnte 1997 der Schachcomputer Deep Blue einen vielbesprochenen Sieg über den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow erzielen. Aber es handelt sich eben nur um die mechanische Seite des Denkens. Daneben existieren viele andere Denkleistungen, die von keiner Maschine auch nur annähernd erreicht werden können: Das Denken vermittelt uns unsere Bewusstseinsidentität, es versorgt uns mit Einfällen und Intuitionen, und es bildet immerwährend Urteile, die uns in unserem Verhältnis zur Welt sinnhaft positionieren.

Solche Werturteile, auch wenn sie scheinbar schnell im Alltag gebildet werden, benötigen ihrerseits eine lange biografische Reifezeit. Denn es ist die gesammelte Lebenserfahrung, die in den gewachsenen Urteilen eines Menschen zum Tragen kommt. Je mehr Reifung hier möglich gewesen ist, und je weniger wir uns zu schnellen "Vor"-Urteilen hinreißen lassen, umso mehr wird den Urteilen die Weisheit unserer Lebenserfahrungen zuteil. Hier geht es eben nicht um Schnelligkeit, sondern darum, dass wir uns ausdauernd und geduldig mit den Welterscheinungen verbinden, dass wir sie von verschiedenen Seiten betrachten und abwarten, in welchem Lichte sie sich selbst zeigen. Urteile sind umso werthaltiger, je mehr sie den in den Welterscheinungen gelegenen Gehalt selbst zur Geltung bringen. Dies führt zu einer Erkenntnis der Dinge, die sich der schnellen Subjektverfügung entzieht. So führt ein geduldiges und sich immer erneut erfahrungsreich mit den Welterscheinungen verbindendes Denken zur Einsicht in den Wirklichkeitsgrund der Dinge. Geduld wird zur Einsicht.

Quelle: Alnatura-Magazine/Jost Schieren

WAAGE - Zufriedenheit wird zu Gelassenheit

(Quelle: Alnatura-Magazine/Silja Graupe)

"Vom Sein-Lassen der Ziele Nach Meinung vieler Ökonomen soll sich alles menschliche Handeln darin erschöpfen, "nach Zielen zu streben, d. h. ein Ziel zu wählen und Mittel zu ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen" (Ludwig von Mises). Verinnerlichen wir diesen Grundsatz, so müssen wir die "Lizenz zur Zufriedenheit" darin sehen, Ziele zu verwirklichen. Ein gleichnamiges Buch aus der Flut an Erfolgsratgebern liefert das passende Bild. Mit Rädern und Schutzhelm ausgestattet, trägt eine Schildkröte auf ihrem Rücken eine Rakete, deren Lunte gerade wie von unsichtbarer Hand entzündet wird. Die Botschaft lautet: Überwinde deine Trägheit! Rase deinem Ziel entgegen, ohne je zur Seite oder gar rückwärts zu schauen! Sei erst zufrieden, nachdem das Rennen vorbei ist!

Es ist paradox: Wir sind beständig unzufrieden, nur um irgend­wann zufrieden zu werden. Ein möglicher Ausweg ist, das Ziel-Mittel-Denken selbst loszulassen. Bei Menzius, einem alten konfuzianistischen Philosophen, findet sich hierfür eine schöne Metapher: Ein Bauer arbeitet täglich auf dem Feld. Mühselig zieht er an den Trieben, Halm für Halm, um möglichst große Pflanzen hervorzubringen. Doch genau auf diese Weise vertrocknet am Ende alles; jegliche Mühe war vergebens. Vor dem gleichen Problem, so Menzius, stehen wir, wenn wir allein auf die Ergebnisse unseres Handelns fixiert sind. Erst machen wir uns im Kopf eine feste Vorstellung. Sodann versuchen wir, die Wirkung unmittelbar zu erzielen. Doch schließlich ernten wir nichts als Frust und Enttäuschung.

Was aber ist Menzius’ Alternative? Gewiss meinen wir oft, die asiatischen Geistestraditionen würden statt zielorientierter Aktivität lediglich eine reine Passivität empfehlen. Doch Menzius’ Lösung besteht gerade nicht darin, am Rande des Feldes stehen zu bleiben. Ein guter Bauer zieht weder an den Trieben, sagt er, noch sieht er ihnen lediglich beim Treiben zu. Vielmehr begleitet er den Prozess ihres Wachsens: Je nach ­Situation hackt, jätet oder bewässert er. Er weiß um das Potenzial, welches aus der Vergangenheit stammt (dem Samenkorn in der Erde), und bereitet ihm in der Gegenwart lediglich die richtigen Umstände, bis es "wie von selbst" zur Reife kommt. Er übt sich in den Prozess des Werdens und Treibens ein, um achtsam mit ihm und an ihm zu wachsen. Er nährt die günstigen Faktoren und schwächt die ungünstigen – sowohl in ihm selbst als auch außerhalb von ihm. Am Ende ist dann zwar, wie man im Daoismus sagt, nichts gemacht, aber dennoch alles getan.

Mit Raketenantrieb und Lunte hat dies wenig zu tun. Eher schon mit den Flaneuren aus dem Paris des 19. Jahrhunderts, die Schildkröten zu ihren Wegbegleitern machten.

Statt durch die Stadt zu hasten, machten sie das verborgene Potenzial des langsamen Gehens fruchtbar, um zugleich sich selbst und die Stadt neu zu entdecken: Wer flaniert, kann nach links, nach rechts, nach hinten schauen. Er hat Zeit zu schmecken, zu fühlen, zu hören. Er kennt sich aus – und lässt sich doch jeden Tag aufs Neue überraschen. Was sich hier andeutet, ist eine bemerkenswerte Form aktiver Passivität: Weder verfolgt man ein Ziel, noch irrt man herum oder bleibt stehen. Man ist so gekonnt und achtsam tätig, dass man zu "einem schöpferischen Moment der sich selbst bestimmenden, schöpferischen Welt" (Kitaroˉ Nishida) wird. Jetzt und heute, nicht morgen oder übermorgen.

Zufriedenheit erwächst hier weniger aus einem Festhalten an Vorstellungen denn aus einer situativen, Selbst und Welt gestaltenden Tätigkeit: Man flaniert nicht, um zufrieden zu werden. Man flaniert zufrieden. Man tut nicht etwas, sondern man tut einfach. Wichtig ist, in dieser Einsicht nicht erneut ein Ideal zu sehen. Wir müssen sie tatsächlich üben. Erst dann verwandelt sich unser permanentes Streben nach einem zukünftigen Zustand der Zufriedenheit in die Praxis gegenwärtiger Gelassenheit: Wir können vorgefertigte Meinungen los- und überraschende Begegnungen zulassen sowie uns auf Neues und Unvorhersehbares einlassen. Die Zufriedenheit, die hieraus erwächst, ist nicht flüchtig. Sie entfaltet sich schöpferisch von Moment zu Moment und ist in diesem Sinne von Dauer. Zufriedenheit wird zu Gelassenheit.

Quelle: Alnatura-Magazine/Silja Graupe


JUNGFRAU – Höflichkeit wird zu Herzenstakt

(Quelle: Alnatura-Magazine/Manon Haccius) 

"Die Tugend, die für den Monat September auf dem Übungsplan steht, ist die Höflichkeit. Höflichkeit als Tugend? Zunächst mag das überraschen, scheint es sich doch dabei um etwas sehr Alltägliches zu handeln, bei dem vielleicht die Frage entsteht, ob es sich dabei wirklich um eine Tugend handelt. Sie könnte eher als Gegenstand eines gedankenlosen Trainings erscheinen, nicht als etwas geistvoll und mit Überzeugung zu Erübendes. Alltäglich ist sie auch, die Höflichkeit – bietet sich doch jeden Tag wiederholt die Gelegenheit zu ihrer Ausübung. Wohl jeder bemerkt es auch, wenn diese Tugend zur Anwendung kommt. Ob es jedem immer gelingt, selbst höfliches Verhalten an den Tag zu legen, oder ob er beziehungsweise sie das überhaupt und in jeder Situation anstrebt, das ist dann schon eine andere Frage.

Ihrer ursprünglichen Wortbedeutung nach bezeichnet Höflichkeit das rechte Verhalten bei Hofe, also am fürstlichen oder königlichen Hof. Höflinge hatten höflich zu sein. Das liegt weit zurück. Als zeitgemäßere Definition führt das Lexikon "Brockhaus" (19. Auflage, 1989) an, Höflichkeit sei die "Form des Umgangs mit den Mitmenschen, die von gegenseitiger Achtung, Rücksichtnahme und der Einhaltung bestimmter gesellschaftlicher Konventionen (zum Beispiel Begrüßungsformen, als Ausdruck des Anstands und des guten Tons) geprägt ist." Wikipedia sagt zum Thema: "Die Höflichkeit oder Zivilisiertheit ist eine Tugend, deren Folge eine rücksichtsvolle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll. Ihr Gegenteil ist die Grobheit oder Barbarei." Sowohl der Verweis auf die Höflinge der Vergangenheit als auch der Hinweis des Brockhaus auf die gesellschaftlichen Konventionen und tradierte Formen des Umgangs mögen erklären, warum man Höflichkeit, die einem gegenüber zum Ausdruck kommt, gelegentlich mit leicht "gemischten Gefühlen" wahrnimmt. Einerseits ist es angenehm, wenn der Umgang höflich ist. Respekt drückt sich darin aus. Anderer­seits kann es sein, dass das bloß Konventionelle daran, das den überkommenen Formen des Umgangs und des Anstands Genügen ein wenig kühl berühren, unpersönlich wirken. Wie jede Konvention kann auch die Höflichkeit in überkommenen Formen, die nicht mehr von Leben erfüllt sind, erstarren.

Etwas fehlt da noch - der Herzenstakt zu dem die Höflichkeit durch bewusstes Üben hinentwickelt werden soll. Ein wunderbares, ein wenig altmodisch anmutendes Wort ist das: Herzenstakt. Übrigens kennen den Herzenstakt weder Brockhaus noch Wikipedia. »Man sieht nur mit dem Herzen gut«, sagt der kleine Prinz bei Saint-Exupéry. Das wird gerne zitiert und bringt regelmäßig ein Lächeln auf die Gesichter. Es ist den Menschen also keine Frage: Sehen kann das Herz.

Auch berühren; das bedeutet ja die lateinische Wurzel des Wortes Takt. Tactus heißt Gefühl, Berührung. Um wieder den Brockhaus zu zitieren: Takt bezeichnet das »Gefühl für richtiges Verhalten, Feingefühl im Umgang mit anderen Menschen«. Beim Takt geht es wie bei der Höflichkeit ebenfalls um richtiges Verhalten, jedoch nicht mehr um die bloß gelernte und insofern richtige äußerliche Form. Sondern es geht darum, dass die gewählte Verhaltensweise von innen kommt, letztlich von Herzen. Dass man erspürt, was in der jeweiligen Situation richtig ist, also nicht nur sozial akzeptiert und angemessen, sondern zwischen den Menschen in einer gegebenen Situation stimmig und passend.

Ein Umgang zwischen Menschen, der von Herzenstakt ­geprägt ist, verlangt Aufmerksamkeit und viel Gespür für die jeweiligen Zwischentöne. Mechanisch einüben kann man dies nicht. Denn hier gibt es kein Verhalten "nach Schema F". Vielmehr ist jede Situation neu und immer wieder anders. Üben jedoch kann man dies sehr wohl. Was setzt das voraus? Zunächst einmal den Willen zu einem entsprechenden Ver­halten. Wachheit, echte Präsenz in der Situation. Selbstkritisches Reflektieren, wenn das angestrebte Verhalten nicht gelungen ist. Dies auf beiden Seiten der an einer Begegnung Beteiligten. Sowohl der "Sender" bei einem Austausch als auch der "Emp­fänger" tragen ja beide zum besseren und auch einmal weniger guten Gelingen einer Begegnung – und sei sie noch so kurz, auf dem Gang, im Vorbeigehen – bei. Dankbar wahrnehmen tut man es gewiss, wenn einem jemand mit Herzenstakt begegnet. Das gilt in besonderem Maße dann, wenn die Situation eine schwierige, nicht alltägliche ist, die gestaltet sein will.

Höflichkeit wird zu Herzenstakt – ein lohnendes Übungsziel für den Monat September, der im Sternzeichen der Jungfrau steht. Diesem Sternbild wird die besondere Fähigkeit zu einem genauen, feinen Empfinden nachgesagt, die rechte Voraussetzung dafür, den nuancierten Abstufungen zwischen Höflichkeit, Takt und Herzenstakt nachzuspüren und sich ihnen zu widmen".


Löwe - Mitleid wird zu Freiheit
Quelle: Alnatura-Magazine/Marcelo da Veiga

"Mitleid wandelt sich zur Freiheit Ein Leben ohne Freiheit ist des Menschen unwürdig. Der berühmte "goldene Käfig", die Totalversorgung und der grenzenlose Reichtum ohne die Möglichkeit, über sich selbst und für sich selbst zu entscheiden, ist kein Zustand, mit dem der Mensch sich abfinden könnte. Denn ihm wohnt, als Person wie auch als Gemeinschaft, Volk oder Nation, der unauslöschliche Trieb zur Selbstbestimmung inne. Zu allen Zeiten haben Menschen und Völker ihr Leben für die Freiheit ­gegeben, zu allen Zeiten mussten sie sich von den wechselnden Formen der inneren und äußeren Versklavung befreien.
Doch worin die Freiheit genau besteht, ist nicht so leicht zu sagen. Leichter fällt es, anzugeben, worin sie nicht besteht. Die negative Freiheit als Abwesenheit von Unterdrückung ­genügt nicht und braucht die positive Freiheit der inhaltsvollen Selbstbestimmung. Doch eben diese positive Freiheit lässt sich nicht fixieren, sondern nur füllen und erfüllen. Ihr Gegenteil, Knechtschaft und Unterdrückung, kann man hingegen eher fest umreißen. Die Freiheit befindet sich somit in einem seltsamen Dilemma. Einerseits muss sie von anderen zugelassen werden und bedarf des Schutzes der Gemeinschaft, andererseits kann sie nicht gegeben und übertragen werden, da sie eine individuelle Hervorbringung ist. Der Mensch ist also nicht einfach frei, er ist bestenfalls unterwegs zur Freiheit. In der Erziehung können Eltern, Erzieher und Lehrer dafür sorgen, dass Kinder lernen, sich ­produktiv selbst auszudrücken, anstatt sich nur passiv äußeren Reizen zu überlassen. Das geschieht zum Beispiel, indem ihnen das Staunen und die Ehrfurcht vor dem Schöpferischen in der Natur – dem Wunder der Schöpfung – vermittelt werden. Ferner aber auch, indem der Sinn für Wissenschaft, Kunst und Spiritualität geweckt wird, also durch die Wertschätzung für die schöpferischen Leistungen der Menschheit. Das alles bereitet Freiheit vor. Denn es ermöglicht, dass der Mensch sich produktiv ins Leben stellt und nicht von einem Eindruck zum nächsten hastet. Die heutige Zeit erzeugt die Illusion, dass Erfüllung durch Konsum zu erreichen sei, und sieht in der Tätigkeit nur das Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Aber nur die Tätigkeit, die sich selbst genügt und um ihrer selbst willen geschieht, befreit. Die selbstvergessene und in sich selbst Erfüllung findende Tätigkeit hat der deutsche Dichter Friedrich Schiller (1759 – 1805) Spiel genannt und in der echten Kunst den Weg gesehen, diesen Zustand des Spiels zu erreichen. Der Künstler spielt jedoch in einem bewussten Sinne, wenn es ihm gelingt, Neigung und Vernunft in Harmonie zu bringen.Die erfüllte Freiheit erringt der Mensch, indem er über sich selbst hinaus wächst und sich als Teil des Ganzen, dem er als Einzelwesen seine Existenz verdankt, empfinden und erkennen lernt. Im Sinne Schillers geschieht das durch die ästhetische Erziehung beziehungsweise Selbsterziehung.
Der Mensch befähigt sich so zu einer Form der Freiheit, die nicht selbstbezogen bleibt, sondern im verantwortungsvollen Miterleben zum Ausdruck kommt. Man kann diese Fähigkeit auch Mitleid nennen. Mitleid ist die Möglichkeit zur Teilnahme und Anteilnahme am Zustand anderer Wesen und der Welt. Es ist aber vor allem auch das Vermögen, sich von Leid beziehungsweise Not des anderen berühren zu lassen und sie wie seine eigene zu erleben. Mitleid ist stets ein hervorstechender Zug großer Religionsstifter und erleuchteter Menschen gewesen. Denn wahre Menschlichkeit beruht darauf, die Enge des bloß selbstbezogenen Erlebens zu durchstoßen und zum Miterleben des Alls zu gelangen.
Dem steht der Egoismus entgegen, von dem manche behaupten, dass er sich gar nicht ablegen ließe, da der Mensch immer an sich selbst beziehungsweise am eigenen Wohlsein interessiert sei. Am Egoismus ist nicht das eigene Wohlsein problematisch und verwerflich, sondern allenfalls, woran sich dieses entzündet. Es ist die Enge der bloß partikularen Interessen, Wünsche und Begierden, denen dann die anderen beziehungsweise das andere untergeordnet werden, die moralisch problematisch ist. Weitet sich indes das Interesse und knüpft sich das eigene Wohlsein an das der Welt, dann ändert sich die Sache. Der Egoismus wird nicht durch Selbstauslöschung überwunden, sondern durch das Weiten und Ausdehnen des Selbsterlebens und die Fähigkeit, den und das andere in sich leben zu lassen. Mitleid oder besser Empathie führt das Selbst über sich hinaus zum anderen und zur Welt. Es wandelt so das Selbst schrittweise zum Allerleben und ermöglicht ihm, sich als Welt und die Welt als seine Verantwortung zu erleben. Mitleid führt daher zur Freiheit, denn es erlaubt, den Freiraum der negativen Freiheit mit dem positiven Inhalt zu füllen, der aus dem sich entgrenzenden Miterleben mit den Wesen und der Welt erwächst".

Sonne-Ingress KREBS

Quelle: Alnatura-Magazine/Klaus Hartmann

"Wer das Leben als Weg auffasst und nicht als Ansammlung zufälliger Geschehnisse, die wir uns selbst zuschreiben, schätzt dessen erste Phasen anders ein als die späteren. Und das gilt auch im Kleinen: Die vielen Einzelwege, aus denen sich unser Leben zusammensetzt, besitzen typische Merkmale und haben teil an einem Universellen. Von jemandem, der etwas beginnt, erwarten wir Selbstheit (welche Attribute wie Selbstbewusstheit und -sicherheit, Selbsttätigkeit und -bestimmtheit mit umfasst). Das bedeutet Mut, Entschiedenheit und Entschlusskraft in der Initialphase. Wer ohne Willensanspannung und wenig ehrgeizig auftritt, dessen Ich gilt leicht nicht viel.

Auf dem Weg durch den Jahreskreis der zwölf Tugenden, der mit dem Mut zum Tun begann, ist man im Übergang der Monate Juni / Juli mit der Selbstlosigkeit an einem Wendepunkt angelangt. Hier geht der Jahreskreis zu Johanni (24. Juni) allmählich in eine entgegengesetzte, vom Umkreis zum Mittelpunkt strebende Bewegung über. Vorher, als es nach außen in die Welt, in den Umkreis ging, als die Tüchtigkeiten der Seele dem aufsteigenden Jahr in der Richtung des Frühlings folgten: vom Mut zur Verschwiegenheit des Keimens, die in der meditativen Kraft selbsttätig wird; von der Großmut, die den Umkreis des Erwartens öffnet; vom Unterwerfen unter das Geschehen der Entwicklung (den inneren Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten, auch der Offenheit zur Begegnung mit Widerständen und Hindernissen), begegnet man überall Werdeprozessen. Sie reihen sich aneinander und kommen in unseren Handlungen, der Biografie und den Naturgeschehnissen des Jahres zum Ausdruck.

Ist nicht das Auftauchen von Wärme – in diesem Frühjahr war es lange zu kalt – Opferkraft? Sind nicht auch Gleichgewicht und Fortschritt als Tugenden Universalien, die ich am Wachstum des Nussbaums in meinem Garten genauso beobachten kann wie an den stabilisierenden Rücksichten menschlichen Tuns? Es braucht Ausdauer für die letzten Wegstrecken eines gestalterischen Geschehens, und in der Treue gegenüber dem ehemals gefassten Ziel zeigt sich endlich das Gelingen. So kündet das Erreichen des frühsommerlichen Höhepunktes im Jahreslauf den Beginn der zweiten Hälfte der zwölf Tugenden an. Das menschliche Ich, das in Mut und Verschwiegenheit sich selbst gefasst, in Großmut und Devotion Hingabe geübt hat und in Gleichgewicht und Ausdauer zwischen Tätigkeit und Empfänglichkeit gereift ist, kann sich nun loslassen, ohne sich zu verlieren. Wo wir aber anderen den Vortritt lassen, ohne unser Engagement zurückzuziehen, treten unsere Motive, gereinigt von Subjektivität, hervor. Reinheit und Lauterkeit (katharos heißt griechisch rein, es steckt zum Beispiel in Katharsis und Katharina) kommen dabei den Zielen zugute, um deren Erreichen es uns geht.

Selbstlosigkeit und Katharsis sind allerdings nicht nur da zu beobachten, wo wir jenseits der Lebensmitte angekommen sind. Wir sehen sie schon bei den Kindern, wenn manche teilen, bis für sie selbst nichts mehr übrig ist. Wer sich so verhält und zurücksteht, wo unbekümmerter Egoismus sich drängelt, wird auch später noch oft für dumm gehalten. Eine Kultur der Selbstlosigkeit, die Eitelkeit, Ehrgeiz und Selbstsucht bekämpft, muss aber damit anfangen, diese im Bereich des eigenen Wesens sehen zu lernen, um das Retardierende allmählich abzustreifen.

Michelangelo hat seine wiederholten Beschäftigungen mit der Selbstlosigkeit, die empfängt und verzichtet und dadurch zur Reinheit führt, in den Darstellungen der Pietà herausgestellt. Die wohl berühmteste, die Pietà im römischen Petersdom, hat er als 23-Jähriger geschaffen; eine jugendliche Madonna, die den Leichnam des Gekreuzigten in den Armen hält. Dabei kannte Michelangelo die Entfaltung der Tatkraft eines David ebenso gut wie die Lauterkeit, die Empfangenes über den Verlust hinaus trägt. Selbst die größten Künstler der Renaissance verehren die Tugenden, etwa die Selbstlosigkeit und die Katharsis, als ein Ideal. Aber Ehrgeiz und Konkurrenz, wie andere Befangenheiten des Zeitalters, hindern sie vielfach noch, diese Ideale als Tüchtigkeiten in ihre Seelen hineinzuarbeiten. Nach Aristoteles sind solche Tugenden nicht angeboren. Man erwirbt sie und prägt sie sich in dem Grad ein, in dem man nach ihnen lebt".



ZWILLINGE - Ausdauer wird zu Treue

Quelle: Alnatura-Magazine/Mechtild Oltmann-Wendenburg

Das Wort Treue hat gegenüber früheren Zeiten im Allgemeinen an Kraft verloren. Es mag daran liegen, dass es für Ideale missbraucht worden ist, die in den Kriegen des 20. Jahrhunderts in Verderben und Tod geführt haben. Ein weiterer Grund könnte sein, dass man sich durch die Forderung von Treue moralisiert und unfrei gemacht fühlt. Ein dritter, dass es augenscheinlich auf dem Gebiet von Ehe, Beziehung und überhaupt Bindung sehr schwer geworden ist, zu halten, was man sich vorgenommen, vielleicht sogar anderen versprochen hat. Viele nehmen es sich auch gar nicht mehr vor, alles Dauerhafte erscheint fraglich und oft gar nicht mehr wünschenswert.Unsere Erde hat ein Urbild hervorgebracht für das, was bleibt, bewahrt und konservieren kann. Im Guten und im Problematischen kann es gebraucht werden, es ist das Salz. Schon in seiner Art zu kristallisieren bildet es regelmäßige Würfel aus. Eine Form, die nicht »aus der Ruhe« zu bringen ist, nicht schwankt oder wackelt, formal verlässlich. So wünschte sich der Gott, der als Mensch über die Erde ging, seine Schüler: "Ihr seid das Salz der Erde."
In der Jugend unserer Zeit findet man manchmal das dem Konservativen entgegengesetzte Ideal: Beruf für das ­Leben? Nein. Wechselnde Arbeitsverhältnisse oder Jobs, ja. Lebensentschlüsse? Nein. Stattdessen Vielfalt, Offenes und Bewegungen, die in die Zukunft führen. Andererseits auch eine neue Liebe zur Erde und eine Sorge um sie, der Wunsch, etwas Schützendes zu tun, um sie zu bewahren.
Die angedeuteten Veränderungen kommen vermutlich von der Sehnsucht nach und der wachsenden Fähigkeit zur Freiheit in unserer Zeit. Das Ideal der Freiheit wird sich immer dann verwirklichen, wenn es gelingt, sich selbst und den eigenen Zielen treu zu bleiben. Nicht mehr von außen wird die Forderung kommen können, Treue zu verlangen als Versprechen oder als Eid, den man leisten muss. Tief im Herzen, vielleicht sogar ganz verborgen, liegt doch bei manchen Dingen eine Sehnsucht, das, was ich gerade lebe und erfahre, sollte bleiben, es sollte nicht so bedrohlich vergänglich sein. Aus der inneren Wahrhaftigkeit einer solchen Empfindung kann der Wille zur Treue neu entstehen und auch der Wille, dafür selbst etwas einsetzen zu wollen, von Tag zu Tag, nicht gleich für "immer".
Die Frage, wie eine Empfindung oder eine Sehnsucht in freie Taten übergehen kann, ist eine schwere und ernste. Am Anfang ist die Begeisterung groß einem solchen Unternehmen gegenüber. Je größer die Aufgabe ist, die ich mir vorgenommen habe, umso größer ist auch Freude, ja die Flügelkraft dazu, jetzt etwas Neues zu tun, etwas zu ändern an den Verhältnissen, die mich umgeben, die meine Lebensumstände sind, oder sogar an mir selbst. Diese aber schützen nicht davor, das neue Ziel bald wieder loszulassen, zu erlahmen und wieder zu ­vergessen. Der "Stolperstein" einer Bequemlichkeit, der nach guten Vorsätzen plötzlich gern im Weg liegt.
Wie kommt eine Vorstellung aus den Gedanken so in meinen Willen, dass der Würfel des Salzkristalls stehen bleibt? Sisyphus musste in der griechi­schen Sage als Strafe einen Felsen den Berg hinaufrollen, der immer wieder herunterrutschte. Ein Bild der Vergeblichkeit, das jeder kennt, selbst wenn er sein Vorhaben freiwillig und nicht als Strafe bewerkstelligen will.
Es gibt ein Gebiet, in welchem es einfach zu sein scheint, regelmäßige Tätigkeiten, ja sogar Anstrengungen gern auf sich zu nehmen, das ist der Sport. Die Verlockungen und Erfolge, die es hier gibt, machen es leichter. Im inneren Leben, auch mit sich selbst, scheint alles viel schwieriger zu sein, was mit dem freiwilligen Tun zusammenhängt. Auch gibt es beim Sport deutliche Maßstäbe, Messwerte, "Olympiaden".
Ermutigend ist, dass die eine Zeitlang von Hirnforschern behauptete Tatsache inzwischen als überholt gilt, der Mensch sei naturgegeben nicht lernfähig, es sei erstaunlich, wie wenig er in seinem Leben ändern könne. Mittlerweile gilt als bewiesen, dass ein Lebewesen, vor allem der Mensch, von seiner Natur aus lernfähig ist. Der Mensch lernt sogar unbewusst (zum Beispiel aus seinen Fehlern).
Die Kraft der freien Selbstentscheidung zu einer Übung, die nach wie vor "den Meister macht", ist zugleich mit der Sehnsucht nach Freiheit gewachsen. In den Augenblicken, wo das gefragt ist, liegt allerdings fast immer eine Schwelle, die Schwelle der Überwindung inneren Beharrens. Es gibt kaum etwas Schwereres im Leben, als sich selbst zu verändern. ­Alles, was durch eine solche Überwindung geht, stärkt wie kaum etwas anderes den Willen, das ganze Lebensgefühl und die Kraft. Das nennen wir Ausdauer, bekleidet mit dem Gewand des "Dennoch". Sie bewirkt Fortschritte, wenn sie auch zunächst unscheinbar sind, Veränderungen und Entwicklung. In diesem Fall sogar Selbstüberwindung zu regelmäßigen, nur sich selbst versprochenen, freien Taten. Es ist oft, als trete eine Art Rückenwind im Schicksal auf, wenn ich eine bedeutende Entscheidung frei getroffen habe, und das zögerliche Fragen, ob es die richtige war, erübrigt sich.
Eine wesentliche Zutat ist, dass ich lernen kann, was ich übe, aus Freude zu tun, und dass es, sooft es gelingt, auch Freude macht! Vielleicht hat Goethe Ähnliches gemeint, wenn er sagt: "Pflicht, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt." Oder: Ausdauer wird zu Treue.


STIER
Gleichgewicht wird zu Fortschritt.
"In der Zeitung las ich einen Kommentar zu dem schrecklichen Massaker, das ein ehemaliger Schüler am 14. Dezember 2012 an einer Grundschule in Newtown in den USA angerichtet hatte. Mit einer Schnellfeuerwaffe hatte er 27 Menschen getötet, darunter 20 Schulkinder. Sinngemäß beklagte der Zeitungsautor: "Wie kann Gott ein solches Massaker zulassen?" Das Wort "zulassen" hat mich verwundert.
Wer hat denn die Tat begangen? Ein Mensch, der dafür auch die Verantwortung trägt, und nicht Gott! Werden die Lebenswege durch Gott ohne unser Zutun gelenkt? Wohl kaum, denn dann sähe die Welt sicher anders aus. Wären wir reine Naturwesen, so müssten wir uns, einem Tier vergleichbar, im Einklang mit "unserer" Gattung verhalten. Dann wären wir keine Menschen, die, jeder für sich ein eigener Kosmos, ihren Lebensweg mehr oder weniger bewusst gehen. Wir Menschen gestalten unsere Biografie durch unser Denken und Handeln selbst. Für alles, was wir tun oder unterlassen, tragen wir die volle Verantwortung.
Wir sind "in die Freiheit entlassen" und sammeln in dieser Aufgabe unsere Erfahrungen. Wir bemerken, dass wir unserem Leben selbst ein Ziel, einen Sinn geben müssen. Wir geraten immer wieder in unerwartete und herausfordernde Situationen, die wir »meistern« müssen. Oft sind wir unsicher, was wir in einer Situation tun oder lassen sollen. Wir wissen, dass wir initiativ sein müssen, wenn sich etwas ändern soll; denn ohne Freiwilligkeit gibt es keine Freiheit. Wir erleben täglich, wie schwer es ist, unser Leben im »Gleichgewicht« zu halten und den eigenen Vorsätzen zu folgen. Wir kennen die Frustration, wenn wir nicht konsequent sind und die selbst gesetzten Ziele aufgeben, weil es uns an Durchhaltewillen fehlt. Wir wissen auch, wie wir uns fühlen, wenn wir das eigene Versagen reflektieren und uns darüber ärgern oder eine kreative Ausrede finden, warum etwas nicht funktionieren konnte. Im Alltag erlebt jeder von uns immer wieder die Polaritäten, die uns aus der Balance bringen: Wir sind zu dick oder zu dünn, zu faul oder ein Workaholic, zu hektisch oder zu langsam, zu chaotisch oder zu penibel, zu pessimistisch oder zu optimistisch. Wir orientieren uns nur am "Eigenen" oder fantasieren wirklichkeitsentrückt über Scheingebilde. Maßhalten und eine Balance zu finden, die zu uns passt, ist eine große Herausforderung und Kunst.
In unserer Zeit gibt es immer mehr soziale und persönliche Phänomene, die uns die Notwendigkeit, das rechte Maß zu finden und das Gleichgewicht zu halten, in aller Deutlichkeit vor Augen führen: Sucht, Burnout, Lernschwierigkeiten bei Kindern – die Liste ließe sich leicht verlängern. Doch wie finden wir zur rechten Balance zwischen den Extremen?
Das Gleichgewicht einer Waage,
bei der sich auf beiden Seiten gleich schwere Gewichte und die Waagschalen in der Mittellage befinden, ist nicht starr und fix. Es pendelt sich ein, stellt sich nach einer Störung wieder ein. Beim »seelischen Gleichgewicht« geht es um die Frage: Wie komme ich ins Gleichgewicht? Das Gleichgewicht ist je nach Lebenssituation verschieden. Wenn ich den ganzen Tag im Garten gearbeitet habe und sonst im Büro sitze, kann ich mehr essen. Wenn mich eine Tätigkeit begeistert, kann ich länger und intensiver arbeiten, als wenn ich etwas tue, was ich innerlich ablehne. Täglich sind wir gefordert, uns neu ins Gleichgewicht zu bringen. Gelingt dies, nennen wir einen Menschen »ausgeglichen« oder sagen, "er ruht in sich". Diese innere Ruhe und äußere Gelassenheit sind zumeist in intensiver Arbeit durch das Ich errungen. Menschen, die ihr Gleichgewicht gefunden haben, führen ihr Leben bewusst. Sie haben für ihr Leben einen Sinn entdeckt und eine Orientierung für sich entwickelt.
Die wichtigste und wesentlichste Orientierung unseres Lebens hängt mit unserem Wirklichkeitsverständnis zusammen. Wir können beobachten, dass uns unsere Sinne bloß Wahrnehmungen liefern, die unzusammenhängend sind und uns noch kein "Wissen" von der Wirklichkeit vermitteln. Erst wenn wir mit unserem Denken die Begriffe zu den Wahrnehmungen hinzufügen, erkennen wir die Welt. Der uns durch unsere Sinneswerkzeuge verwehrte Zugang zur Idee wird durch unser Denken erreicht, indem wir die Idee dessen, was wir begreifen wollen, im Denken erfahren. So begegnet unser Geist dem Geistigen, das in den Dingen wohnt. Dies ist die "Urerfahrung" des Gleichgewichts, das wir selbst herstellen müssen und das uns den Geist, der in den Dingen lebt, erfahren lässt.
Das "Finden der Wirklichkeit" im produktiven Erkennen ist nicht selbstverständlich. Wir müssen die Mitte zwischen Wirklichkeitssucht, der Überbetonung der Wahrnehmungsseite, und Wirklichkeitsflucht, dem Träumen in der Ideenwelt, durch bewusste Erkenntnis finden.
Diese Urerfahrung bringt uns zum Bewusstsein, dass wir sowohl eine "produktive" als auch eine "konsumtive" Wesensseite haben. Die Sinneserfahrungen treten ohne unser Zutun auf, die Begriffe und Gedanken bringen wir aktiv und bewusst hervor. Herbert Witzenmann spricht in diesem Zusammenhang von dem Eindrucks- und Ausdruckswesen des Menschen. In unserer Zeit überwiegt das Eindrucksparadigma. Kinder, Studenten und "Auszubildende" sollen Wissen aufnehmen und reproduzieren können. In ihrer lernfreien Zeit lassen sie sich von Bild- und Toneindrücken überfluten. Dies führt zu einem Ungleichgewicht. Es fehlt die Möglichkeit sich auszudrücken, den Menschen und sich selbst zu zeigen, dass man etwas gestalten kann, dass man beitragen kann. Krankheitssymptome wie beispielsweise ADHS-Schwäche gründen in diesem Ungleich-gewicht.
Die Wirklichkeitserfahrung, Gleiches durch Gleiches zu erkennen, ist das Gleichgewichtserlebnis, das zum Fortschritt wird. Wir schreiten in unserer Erkenntnis fort, indem wir die Welt immer besser erkennen und tiefer verstehen. Damit können wir in unserem Handeln den Wesen immer besser entsprechen und zu ihrer Entwicklung beitragen. Das Suchen nach unserem geistigen und seelischen Gleichgewicht ist die Quelle des Fortschritts, in der Gestaltung unserer Biografie und in der Gestaltung unserer Erde."
Quelle: Alnatura-Magazine/Prof. Dr. Götz E. Rehn


WIDDER- Devotion wird zu Opferkraft
Quelle: Alnatura-Magazine/Prof. Dr. Götz E. Rehn

"WIDDER -Ehrfurcht
Wer aus Liebe handelt, hat auch Ehrfurcht. Sie entspringt dem Respekt vor dem anderen. Es gibt Ehrfurcht vor dem anderen Menschen, aber auch vor den Pflanzen und Tieren. Wir erkennen im anderen Wesen dessen Einzigartigkeit an. Die Individualität eines Menschen ist immer Ausdruck seines Geistes. Aus der Begegnung mit einem besonders beeindruckenden Menschen kennen wir die Erfahrung von Ehrfurcht. Wir sind berührt von den geistigen, musischen oder sozialen Leistungen eines Menschen. So kann sich Ehrfurcht in Verehrung verwandeln. Wir "bewundern" den anderen und ehren seine besonderen Leistungen, seine Ausstrahlung und seine Gedanken. Indem wir einem anderen diese Ehrerbietung entgegenbringen, verneigen wir uns letztlich vor seinem Wesen.

Das Wesen des Menschen ist einzigartig.
Deshalb kann der Mensch "ich" nur zu sich selbst sagen und damit seine Individualität selbst erleben sowie für andere erlebbar machen. Diese Erkenntniserfahrung ist die Grundlage für die Ehrfurcht vor dem anderen "Ich". Es ist die Tugend der Anerkennung des anderen als individuelles, unverwechselbares Wesen und die Fähigkeit, die andere Individualität zu erkennen. Der Gegensatz von Devotion ist Dominanz. Wenn wir ein anderes Wesen dominieren, wollen wir es beherrschen und es dazu bringen, das zu tun, was wir wollen. Ein hingebungsvolles Denken und Handeln möchte gerade das andere oder den anderen verstehen.
Nur wenn wir unser Denken soweit geschult und beweglich gemacht haben, dass wir die Individualität des anderen Menschen, sein besonderes Geistiges erleben, begegnen wir seiner Individualität. Allzu oft erleben wir nur unsere von uns selbst geprägten Vorstellungen über den anderen Menschen und nicht sein Wesen. Nur durch großen Respekt vor den anderen "Geistern" erarbeiten wir uns eine Einstellung, die es erlaubt, das Wesen des anderen Ichs jedenfalls anfänglich zu denken.
Wenn uns dies gelingt, knüpft unser Handeln am anderen an. Es entspricht dann seinem Wesen und ist nicht mehr nur mein eigener Impuls. Eine in Liebe getauchte Handlung trägt dazu bei, dass das andere Wesen sich auch selbst besser versteht und sich besser zu zeigen vermag. Die Tat aus Liebe ist "Entwicklungshilfe" für den anderen Menschen. Sie unterstützt die Entwicklung des anderen, ohne ihn zu bevormunden oder in seinem eigenen Bemühen zu manipulieren.
Dies ist auch die "Grundgeste" einer arbeitsteilig organisierten Wirtschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Wir haben Ehrfurcht vor dem Menschen, in dem Fall dem Kunden, und wir gestalten unsere Produkte und Dienste aus Liebe zu den Menschen. Dabei wollen wir alles so gestalten, dass die Kunden durch die angebotenen Produkte in ihrer eigenen Entwicklung möglichst gefördert werden. Wirtschaft hat also keinen Selbstzweck, sondern dient den Menschen auf ihrem Entwicklungsweg.
Aber auch gegenüber der Umwelt, den Tieren, Pflanzen und der unbelebten Natur ist unsere Ehrfurcht Ausdruck der Erkenntnis, dass allen Naturwesen ein Geistiges innewohnt. Wollen wir in unserem Tun den Naturwesen gerecht werden, müssen wir ihre Idee erkennen. Durch unser Denken bringen wir uns die Idee zum Bewusstsein. Haben wir einen Begriff, zum Beispiel von einem Huhn, dann können wir unsere Taten so gestalten, dass sie dem Huhn möglichst gut entsprechen. Die Forderung nach einer artgerechten Tierhaltung zielt auf dieses Bemühen. Es geht darum, das Wesen der Art zu erkennen, um mein Handeln gemäß dem Wesen dieser Tierart auszurichten.
Dabei geht es nicht darum, eigene Gedanken zu verwirklichen und die Kreatur nach von Menschen ausgedachten Maßstäben zu behandeln. Eine im Wesentlichen an Effizienz, das heißt an maximaler Produktionsleistung orientierte Tierhaltung entspricht nicht der Kreatur. Sie ist vielmehr Ausdruck der Respektlosigkeit gegenüber dem anderen Wesen und seiner Eigenart. Nur wer in Ehrfurcht vor den Naturwesen denkt und handelt, kann ihrer Eigenart genügen, sie wesensgemäß behandeln, ihnen eine für sie förderliche Umwelt gestalten.
Dies ist das Anliegen des ökologischen, besonders auch des biologisch-dynamischen Landbaus. Während die Agrarindustrie Boden, Pflanzen und Tiere ausnutzt, um den maximalen Ertrag zu erzielen, begreift der biologisch-dynamische Landbau den einzelnen Bauernhof als einen lebendigen Organismus. Alles ist darauf gerichtet, das Bodenleben zu entwickeln, die Pflanzen und Tiere in ihrer Eigenart zu fördern. Dies tun wir nur, wenn wir Ehrfurcht vor den Naturwesen haben und sie in ihrer Lebensweise unterstützen wollen.
Die Entwicklung der Ehrfurcht gegenüber den uns umgebenden Wesen ist die Voraussetzung, um wesensgerecht handeln zu können. Der Bestimmungsgrund unserer Tat ergibt sich aus der Erkenntnis des anderen Wesens. Wir drängen unsere Eigenheit zurück und schaffen den Bewusstseinsschauplatz in uns, auf dem sich das andere Wesen offenbaren kann. Die Pflege der Devotion wandelt sich in »Opferkraft«. Uns erwachsen neue Kräfte des Erkennens und Gestaltens durch den Verzicht auf die Verwirklichung unserer Selbstheit bei voller Bewusstheit."

FISCHE – Großmut wird zu Liebe.

(Quelle: Alnatura-Magazine/Wolfgang Gädeke)

"Seit alters her ist in allen Kulturen und Religionen die Überzeugung selbstverständlich, dass der Mensch so, wie er von Natur ist, nicht bleiben sollte. Nicht nur in der Kindheit und Jugend soll er durch geeignete Verhaltensweisen und Maßnahmen der Erwachsenen erzogen werden, sondern er ist auch gehalten, als Erwachsener sich selbst zu verändern und das zu üben, was man die Tugenden nannte. Schon das Wort allein erscheint vielen heute unmodern und antiquiert; was damit gemeint ist, ist aber höchst aktuell: Denken wir nur daran, wie existenziell notwendig es heute ist, dass die Menschheit lernt, mit den natürlichen Ressourcen sparsam umzugehen. Wie aber soll die Menschheit dieses lernen, wenn der Einzelne die Tugend der Sparsamkeit nicht übt? Es gab auch zu allen Zeiten in den Religionen der Völker und in den Systemen der Philosophen Vorschriften oder Empfehlungen, wie Tugenden geübt werden sollten. Auch die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, Helena Petrowna Blavatsky, hat solche Tugenden für den geistigen Weg des Menschen zu üben empfohlen und sie den zwölf Monaten beziehungsweise dem Tierkreis zugeordnet. Rudolf Steiner hat dies erweitert, indem er hinzufügte, was aus einer Tugend als Ergebnis der Seele erwächst, also zum Beispiel: Großmut wird zu Liebe.
In unserer Alltagssprache ist das Wort Großmut nicht sehr gebräuchlich.
In der Antike galt die Großmut als eine Tugend, die der mächtige Herrscher gegenüber seinen Untertanen, der Sieger gegen seine besiegten Feinde, der Überlegene gegenüber seinen Neidern üben sollte. So wurde manchem Herrscher der Beiname "der Großmütige" gegeben.

Wir kennen in unserer Alltagssprache eher den gegenteiligen Begriff: Wenn wir jemanden "kleinmütig" nennen, so meinen wir damit eine Seele, die sich nur in geregelten, altbekannten, kleinen bis beschränkten Bereichen wohlfühlt, die eher ängstlich, risikoscheu nur auf ihre eigenen inneren und äußeren Belange achtet. Ein solcher Mensch wird eher zu Kleinlichkeit und Beschränktheit neigen und leicht in Egozentrik und Isolation geraten. Ein solcher Charakter ist oftmals bedingt durch Herkunft und Erziehung, eventuell durch traumatische Erlebnisse oder aber eine angeborene Charakteranlage. Aber etwas davon steckt in jeder Menschenseele. Auch Großmut kann eine mitgebrachte Charakteranlage sein. Wir kennen diese wunderbaren Menschen, die sich nicht an Kleinigkeiten stören oder aufhalten; die immer das Große und Ganze im Blick haben mit einem weiten Herzen für alles Wahre, Schöne und Gute – aber vor allem auch für alles Menschliche und Allzu menschliche; die wenig kritisieren, viel Verständnis für andere haben und andere gern und oft von Herzen loben oder selbstlos fördern. Sie verzichten auf Rache und sind nicht nachtragend.
Kann ich etwas an meinem Charakter ändern?
Ist nun jeder von uns mit einem feststehenden Maß an Großmut oder Kleinmütigkeit begabt? Oder kann ich selbst etwas daran ändern, was ich in meiner Seele in dieser Hinsicht an Gestimmtheit und Veranlagung vorfinde? Jede positive und humane Philosophie, Weltanschauung und Religion beantwortet diese Frage mit: Ja!
Wie kann das geschehen? Sicher können wir unseren Charakter in dieser Hinsicht grundsätzlich nicht von heute auf morgen ändern, zum Beispiel durch feierlichen Entschluss an einem Silvesterabend. Aber wie bei jeder Kunst und jedem Handwerk können wir durch geduldiges Üben und Trainieren unsere diesbezügliche Veranlagung verändern. Dabei können das lateinische und das englische Wort für Großmut, magnanimitas beziehungsweise magnanimity, die Wegrichtung angeben. Denn diese Worte heißen nichts anderes als: Seelengröße. Es geht also darum, die eigene Seele in kleinen Schritten auszuweiten. Das kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass ich fortwährend, an jedem Tage meines Lebens den Horizont meiner Vorstellungen und Gedanken aktiv willentlich erweitere, ohne dass mich mein Beruf oder mein alltägliches Leben dazu nötigen. Das kann auf allen Gebieten des Daseins geschehen, auf dem Felde der Kunst, der Wissenschaft oder der Religion.
Auch meine Willenskräfte kann ich ausweiten, indem ich mich zum Beispiel aktiv darum bemühe, andere Menschen, Völker und Sprachen kennen zulernen und zu verstehen. Auch wenn ich Tätigkeiten und Verantwortungen übernehme, die nicht zu meinem normalen Pflichtenkreis gehören, erweitere ich aktiv meine Seele.
Gegenüber diesen Bereichen des Denkens und Wollens ist die Ausweitung der Seele im Bereich unserer Gefühle nicht so leicht und direkt möglich. Aber es gibt ein indirektes Mittel, das jedem Menschen zur Verfügung steht, nämlich Interesse zu entwickeln. Normalerweise sagt der Mensch: Dies oder das interessiert mich oder interessiert mich nicht. Aber das ist keine unveränderliche Naturgegebenheit, sondern wir können unser Interesse immer mehr ausweiten. Und indem wir das willentlich tun, werden wir bemerken, wie sich unsere Gefühle in Bezug auf die Menschen oder Dinge, für die wir uns neu interessieren, verändern. Das können wir schon bei ganz einfachen Dingen wahrnehmen, die zunächst unser Interesse nicht hervorgerufen haben. Wenn wir uns zum Beispiel vornehmen, uns für Briefmarken zu interessieren, wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, sie sammeln und ordnen, Kataloge studieren, werden wir bemerken, wie sich unsere Gefühle gegenüber Briefmarken im positiven Sinne verändern. Mit der Zeit werden wir unser neues Hobby sogar lieben.
Noch mehr gilt dies gegenüber Menschen: Ist uns ein Mensch gleichgültig oder gar unsympathisch, so können wir dieses Gefühl nur verändern, indem wir uns aktiv für ihn und sein Schicksal interessieren, ihn immer besser kennen und verstehen lernen wollen. Wenn wir das tun, wird unsere Gleichgültigkeit oder Antipathie allmählich schwinden und an ihrer Stelle ein gutes Gefühl für diesen Menschen entstehen, das wir Liebe nennen können. Wenn wir auf diese dreifache Weise unsere Seele weiten, großmütig machen, entwickeln wir unsere Liebesfähigkeit. Großmut wird zu Liebe".




WASSERMANN – Diskretion wird zu Meditationskraft
Quelle: Alnatura-Magazine/Manon Haccius:

"Mit dem französischen Wort für Tugend, "vertu", schmückt sich ein Luxushandy, oder besser: Es wird durch seinen Anbieter mit diesem Namen geschmückt. Was auf den ersten Blick vermessen erscheint, könnte seine Berechtigung finden, wenn man auf die sprachlichen Wurzeln des deutschen Wortes Tugend schaut: "tugund" im Althochdeutschen bedeutete "Tauglichkeit", auch "Kraft". Und Tauglichkeit ist ja in der Tat das, was man von einem technischen Gerät erwartet. Solche Tauglichkeit ist in der Regel das Ergebnis engagierten Strebens, von längerer Arbeit der Entwicklungsingenieure und meist nicht auf Anhieb erreicht. Dass unsere eigene seelische Kraft und Tauglichkeit durch einen Entwicklungsprozess, den wir selbst betreiben, vorangebracht werden kann, ist uns oft nicht bewusst. Tugenden sind nicht einfach da als seelische Eigenschaften oder Fähigkeiten. Aber sie können erübt, erstrebt, entwickelt werden. Hier ist jeder Mensch sein eigener"Entwicklungsingenieur".
Mit Diskretion oder Verschwiegenheit wird die Tugend beschrieben, mit der sich zu beschäftigen, die zu erüben für den Monat Februar eingeladen wird. Diskretion bedeutet zunächst einmal Unterscheidungsvermögen, dann die Fähigkeit, mit erlangten Informationen Dritten gegenüber zurückhaltend umzugehen, sie nicht gleich jedem gegenüber auszuplaudern. Unterscheiden zu können, was man erzählen kann ohne zu schaden, und was man besser nicht erzählt. Vielleicht auch, über Menschlich- Allzumenschliches, das man irgendwo mitbekommen hat, hinwegzusehen, darüber zu schweigen, anstatt es durch Weitertratschen größer zu machen, als es eigentlich ist. Den Wert solcher Diskretion zu schätzen, mag ungewöhnlich erscheinen in einer Zeit, in der nicht zuletzt mithilfe der elektronischen Medien alles und jedes sogleich weiter "gezwitschert" wird, nicht selten sogar von den Betroffenen selbst. Ohne Verschwiegenheit ist Diskretion, wie wir sie heute verstehen, nicht denkbar.
Verschwiegenheit umfasst mehr Facetten. Schweigenkönnen steckt mit darin. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für das Zuhören, ohne welches ein echter Gedankenaustausch, ein wirkliches Gespräch nicht möglich ist. "Reden ist Silber", weiß das Sprichwort, "Schweigen ist Gold". Nun soll gewiss nichts gegen das rechte Wort zur rechten Zeit gesagt sein. Aber unterscheiden zu können, wann man spricht und wann man besser zuhört, also sich selbst die Gelegenheit zum Aufnehmen und Zuhören gibt, diese Fähigkeit könnte und sollte man bewusst üben. Solches Zuhören gibt dem Mitmenschen überhaupt erst die Gelegenheit, sich tiefer auszusprechen, etwas zu Gehör zu bringen.
So wie Weitergetratschtes sozial unerwünschte Wirkungen haben kann, so verhält es sich mit Beobachtungen, Plänen, Angestrebtem in der eigenen Entwicklung. Hier unbedacht auszuplaudern, was man möchte oder übt oder anfänglich vielleicht schon in seinen Wirkungen an sich beobachtet hat, das kann schwächend auf das zart Erreichte wirken. Besser hält man es noch ein wenig zurück, wird sich selbst klarer dazu und weiß bewusster, welche Entwicklung sich da in einem anbahnt. Vielleicht schwindet dann sogar der Drang zur Mitteilung, und man lässt die Perle in der Muschel noch eine Weile still weiterwachsen. Es wird seinen Grund haben, warum man schweigsame Menschen mit einer Auster (der Muschel, in der eine Perle heranwachsen kann) vergleicht!
Mit dem Üben von Verschwiegenheit wird man das Sprechen nicht verlernen. Im Gegenteil, man wird besser wissen, wann man etwas sagt und vor allem auch, was man sagt, sodass es hilfreich und weiterführend im geäußerten Zusammenhang ist. Dem, der wenig sagt, aber das mit Substanz und im richtigen Moment, wird im Allgemeinen – von den allgegenwärtigen Talkshows einmal abgesehen – deutlich besser zugehört. Das Gesagte bekommt mehr Gewicht, es wird wirksamer.
Als Entwicklungspfad für die Tugend der Verschwiegenheit wird aufgezeigt, dass sie zur Meditationskraft wird. Momente des Schweigens trainieren das Hören auf Zwischentöne, noch nicht Gesagtes, bloß erst Mitschwingendes. Sie ermöglichen also ein umfassenderes Verstehen. Und gezieltes Üben von Verschwiegenheit gibt die Zeit und die Kraft zum Bedenken und Besinnen von Beobachtetem und gedanklichen Inhalten. Die Kraft für seelische Betätigung wächst durch solches Üben, hier die Kraft für das Meditieren, das gedankliche In-den-Dingen-sein.
Dass Leibesertüchtigung – um den alten Begriff zu wählen – die Muskeln tauglicher macht, das wissen wir. Dass wir an unserer seelischen Tüchtigkeit – oder Tugend – ebenso arbeiten, sie entwickeln können, das ist uns vielleicht nicht sofort einsichtig. Es lohnt den Versuch!"



STEINBOCK – Mut wird zu Erlöserkraft
("Die Zuordnung der Tugenden zum Tierkreis stammt von H. P. Blavatsky... die Ergänzungen «wird zu ...» gehen auf Rudolf Steiner zurück.")

Wer wollte nicht tugendhaft sein? Menschen, die in ihrem Denken, Fühlen und Wollen den höchsten Idealen des Menschen entsprechen, leben die Tugenden. Nur der Mensch kann als Geistwesen in sich den Tugenden zur Wirksamkeit verhelfen. Sie machen aus dem Naturwesen Mensch ein Kulturwesen. Darin besteht in unserer Zeit die Aufgabe für uns Menschen: Die natürliche Schöpfung durch uns weiterzuführen und zu entwickeln. Dies kann nur aus einem freien Impuls des Menschen erfolgen und kann auch nur von ihm geleistet werden.
Die Tugenden finden ihren Niederschlag in den Beziehungen zwischen den Menschen sowie zwischen den Menschen und der sie umgebenden Welt. Sie sind Ausdruck des Universell-Menschlichen, das sich im Individuell-Menschlichen offenbart. Gerade in einer Zeitlage, in der die Menschen nach neuen Orientierungspunkten für ihr Leben suchen, kann uns die Beschäftigung mit den Tugenden neue Perspektiven unseres Mensch-Seins erschließen.

Ohne Mut gibt es keine Entwicklung.

Wir bedürfen immer des Mutes, um den Tag neu zu beginnen. Es ist der Mut, ein Leben führen zu wollen. Das ist nicht selbstverständlich. Manch einen verlässt der Lebensmut, und er zieht sich aus der Wirklichkeit zurück. Wir alle kennen Nuancen der täglichen "Muterfahrung". Wir sind entmutigt, weil wir eine Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben, nicht geschafft haben. Wir waren übermütig und haben uns beim Sprung von der Mauer den Knöchel verknackst. Wir waren mutwillig und haben die Sandburg der Schwester zerstört.
Mut hat immer damit zu tun, dass wir etwas zulassen oder unternehmen. Haben wir den Mut, Gefühle, die uns berühren, zuzulassen? Haben wir den Mut, einen neuen Gedanken zu denken? Haben wir den Mut, einem in Bedrängnis geratenen Menschen zu helfen? Haben wir den Mut, unserer eigenen Erkenntnis zu folgen? Sind wir also couragiert genug, mit uns selbst ehrlich zu sein, oder spielen wir eine Rolle im Leben?
Das Wort Courage bedeutet Mut und wird in Deutsch, Englisch, Französisch und Niederländisch gleichbedeutend verwendet. Es geht auf den Wortstamm "Coeur" zurück, was Herz bedeutet. Wer mutig ist, folgt seinem Herzen, er folgt seinem Ich ohne Kompromisse.

Ohne Mut gibt es keine Entwicklung. Nur wenn wir mutig unsere Grenzen überschreiten, lernen wir Neues kennen und können Veränderungen in der Welt bewirken. Insofern steht der Mut am Anfang aller Entwicklungsprozesse. Indem wir erleben, dass die Aktivitäten, die wir unternehmen, von der Welt angenommen werden, wir also in unserem Tun bestätigt werden, entwickelt sich der Mut. Wir wagen in Zukunft mehr und loten unsere Grenzen, aber auch die Entwicklungsmöglichkeiten unseres Handlungssubjekts oder -objekts aus.
Wir alle kennen das Erlebnis, etwas Unbekanntes neu zu beginnen.
Dies gilt insbesondere für unsere Kindheit. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Berührungen mit Wasser und die Idee meiner Eltern, mir das Schwimmen beizubringen. Ich hatte Angst, mich ganz ins Wasser zu begeben und erste froschartige Schwimmbewegungen zu machen, obgleich ich vom Schwimmlehrer gehalten wurde. Ich hatte nicht den Mut, den Boden unter den Füßen zu verlieren und in dem neuen Medium Wasser eine neue Fortbewegungsform, das Schwimmen, zu erlernen. Es dauerte eine Zeit, bis ich den Mut fasste und mich der neuen Situation anvertraute. Zu meiner Überraschung gelang es gut, "über Wasser zu bleiben", und ich lernte schwimmen.
Vergleichbare Erlebnisse sammelt jeder Mensch immer wieder im Leben. Wir verlassen den "festen Boden" des uns Bekannten und lernen eine neue Welt mit anderen Gesetzen kennen. Das ist die eigene Unternehmerschaft unseres Lebens. Dabei hängt vieles von unserem Mut ab, auf unser "Herz zu hören" und uns wirklich auf dasjenige einzulassen, das uns schicksalhaft begegnet. Immer wieder treten Situationen in unserem Leben an uns heran, die von uns eine Entscheidung verlangen. Haben wir den Mut, dem Ruf der "Aufgabe" zu folgen und damit etwas zu beginnen, das etwas zur Erscheinung bringt, was sich nur durch unsere Tat zeigen kann!
So wird der Mut zur "Erlöserkraft". Nur mit Mut kann das Neue in die Welt kommen und das Bestehende aus seinem Zustand "erlöst" und weiterentwickelt werden. Gerade darin besteht die Chance und Herausforderung von uns Menschen heute: Wie gelingt es uns immer besser, mutig die wesentlichen Aufgaben, die auf uns warten, zu erkennen, sinnvoll zu gestalten und damit der Welt ein neues "Antlitz" zu geben?

Quelle: Alnatura-Magazine/Autor: Prof. Dr. Götz E. Rehn


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