Monatstugenden
SCHÜTZE - Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden
(Quelle: Alnatura-Magazine/Christoph Lehmann)
"Adventszeit, eine besinnliche Zeit? Es ist die dunkle Zeit im Jahr, und wir sind eingeladen, uns mit tief gehenden Themen zu beschäftigen, ein inneres Licht zu entzünden. Doch das fällt nicht immer leicht: Blinkende Lichter, gehetzte Konsumenten, aggressives Werben in den Schaufenstern, das alles lenkt ab und lässt einen nicht zur Besinnung finden. Trotzdem: Ich möchte Sie einladen, sich Gedanken zu machen. Über Gedanken.
Ein altes schlesisches Volkslied, "Die Gedanken sind frei", beschreibt, dass in Situationen von äußerlicher Unterdrückung und Unfreiheit die Gedanken es sind, die sich nicht einsperren lassen. In der zweiten Strophe heißt es: "Ich denke, was ich will ..." Aber ist das so? Ich kenne das Phänomen, dass sich die Gedanken manchmal ungestüm aneinanderreihen, Assoziationen hervorrufen, ständig sinnvolle oder auch weniger sinnvolle Bezüge herstellen, sogar manchmal auch zur "Knäuelbildung" neigen, die ich nicht "will" und damit eher ein "Zuviel" an Freiheit und Eigenleben empfinden lassen. Versuchen wir, uns auf einen Gedanken zu konzentrieren, dann braucht es manchmal richtig Arbeit, Strenge und das Überwinden der Ablenkung, um ihn festzuhalten. Sie kennen es sicher auch: Sie haben einen "vagen Gedanken", eine Intuition, und wenn es gelingt, diesen zu entwickeln und auszuformen, unter großer Anstrengung – dann kommt etwas Neues in die Welt, was Begriffe braucht, um es handhabbar zu machen.
Rudolf Steiner beschreibt in seiner Philosophie der Freiheit: "Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende Erleben eines rein geistigen Inhaltes" (GA 004, S.146). Da sind wir als Menschen schöpferisch und zeigen uns auch als Geistwesen.
"Das habe ich nicht begriffen", sagte mir meine staunende Patentochter, als ich versuchte, ihr einen bestimmten Sachverhalt zu erklären. Bei weiterem Forschen, was es denn sei, was da schwierig zu begreifen für sie war, merkten wir, dass ich Worte benutzt hatte, die sie noch nicht kannte. Darum konnte sie nicht "be-greifen", sich nicht "vor-stellen", worum es ging. Dann habe ich mich darum bemüht, meine Gedanken noch einmal besser und mit anderen Begriffen zu erklären. Zum Glück ist es mir gelungen, und ich hatte den Eindruck, wir haben uns "verstanden".
Damit wir einen Gedanken halten können, brauchen wir Begriffe. Diese Begriffe sind allgemeingültig, soweit die Menschen, die mit ihnen umgehen, die gleichen Wahrnehmungen oder Erfahrungen mit ihnen verbinden. Die Vorstellung, die ein Mensch sich innerlich bildet, wenn er einen Begriff hört, steht zwischen Wahrnehmung und Begriff. Wenn der Begriff also nicht klar ist, wird die Verständigung schwierig. Vielleicht kennen Sie das wunderbare Spiel "Teekesselchen", bei dem es darum geht, einen Begriff zu erraten, der mit verschiedenen Bedeutungen belegt ist. Nehmen wir das Beispiel "Bank". Und selbst wenn wir uns auf eine Bedeutung des Wortes einigen, dann ist es immer noch ein Unterschied, wie so eine Bank aussieht. Die Vorstellung ist dann eher ein individualisierter Begriff, denn was sich ein Mensch vorstellt, das bleibt in seiner Gänze nur ihm selbst zugänglich. Wir anderen können uns da nur empathisch nähern, aber vollständig werden wir es nicht schaffen. Wir hören es ja immer wieder, wenn ein begeisterter Mensch erzählt: "Du kannst es dir nicht vorstellen, es war unglaublich ...!"
Um das Leben noch etwas komplexer und bunter zu gestalten, sind wir auch noch mit Gefühlen ausgestattet worden. Wenn wir uns schon einigermaßen auf den Begriff "Bank" einigen konnten, so sind doch die Gefühle, die wir damit verbinden, ganz individuell. Hätten wir das Gefühl nicht, wären wir gleichgültige Wesen. Wir alle haben das Gefühl als Indikator zur Verfügung: Ist eine Situation stimmig oder "schräg"? Wer kennt es nicht, das berühmte Bauchgefühl? Und manchmal verführt es auch. Bei wichtigen Entscheidungen folge ich immer dem alten Wahlspruch: erst einmal darüber schlafen. Während des Schlafes können sich die Wertewelten noch einmal verändern und ein erstes Bauchgefühl läutern. Das ist hochindividuell. Also sind wir mit den Gedanken und Begriffen mit der äußeren Welt verbunden, mit dem Gefühl ganz in unserem eigenen Wesen. Daher müssen wir einfach, manchmal wehmütig, anerkennen: Wir leben alle in unseren eigenen Wirklichkeiten.
Der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun empfiehlt zur Klärung der eigenen Gefühle und Gedanken die Methode des "inneren Teams". Es ist eine Metapher für die "inneren Mitarbeiter" als Team und dessen Leiter, bei dem es darum geht, sein "inneres Team oder Parlament" gut kennenzulernen, es wertzuschätzen und – es zu führen.
"Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden." Das ist das pessimistische Resümee, das Dürrenmatt bei seinen Physikern zieht, die sich als Atombombenschöpfer aus Angst vor ihrer eigenen Erfindung in die Psychiatrie verkriechen. Das war zu Zeiten der Hochphase des Kalten Krieges. Wenn aber Gedanken zu Sprache werden (ein höherer Hörbarkeitsgrad des Gedankens), so wird ein sehr Intimes plötzlich öffentlich, und das ist auch nicht immer angenehm, denn nichts ist so irreversibel wie das gesprochene Wort. Ist es erst raus, erlangt es Wirkung. Die deutsche Sprache bietet da viele Beispiele: "Da sieht man, wes Geistes Kind jemand ist." Eine Andeutung auf eine höhere Instanz, einen Impuls, der in uns lebt.
Vor dem Hintergrund der voranschreitenden Individualisierung der Menschen wird eine der wichtigsten Disziplinen sein, Bewusstsein für die verschiedenen Wirklichkeiten zwischen uns Menschen zu erlangen. Und nicht die eigene Wirklichkeit als die allgemeingültige Wahrheit hinzustellen. Es geht darum, eher mit einer Frage aufzuwarten, als das eigene Urteil zu fällen und dann als allgemeingültig anderen überzustülpen. Denn die Frage öffnet, während das Urteil abschließt. Oder, um noch weiter zu gehen: einfach nur schweigen und nach-sinnen. Vielleicht entwickeln wir so das richtige Wahrheitsempfinden."
SKORPION- Geduld wird zu Einsicht
Quelle: Alnatura-Magazine/Jost Schieren
Das Merkmal unserer Zeit und Kultur ist die Schnelligkeit. Angetrieben wird diese Schnelligkeitseuphorie von der großen Leistungskraft der Maschinen, die in den Bereichen der Produktion, Kommunikation und Fortbewegung alle Vorgänge der Zivilisation enorm beschleunigen, sodass wir die Grenzen von Raum und Zeit kaum mehr bemerken. Wir können mit Autos, Zügen und Flugzeugen, in denen unsere "langsamen" Körper gemütlich sitzen, die ganze Welt kurzfristig erreichen. Und mittels der Computertechnologie können wir in einem Sekundenbruchteil einen Datenaustausch rund um die Welt generieren.
So wird die Schnelligkeit zur Gewohnheit und prägt unseren Lebensstil und unser Handeln. Wir werden ungeduldig, wenn wir Wartezeiten hinnehmen müssen. In der Sprache der Ökonomie geht es um Effizienz, und es gilt der Satz: "Zeit ist Geld!". Wir haben längst begonnen, das Paradigma der Schnelligkeit mehr und mehr als unhinterfragten Wert zu akzeptieren, und übertragen ihn auf Bereiche, wo Schnelligkeit eigentlich nicht hingehört. Nahrungsmittel sollen immer schneller und in größeren Mengen hergestellt werden, dabei werden die natürlichen Reifungsprozesse zum Teil ignoriert und die biologischen Grenzen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Züchtung und Gentechnik expandiert. Zudem werden unbedacht Ressourcen genutzt, um saisonunabhängig alles allen und jederzeit verfügbar zu machen. In den Bereichen Erziehung und Bildung verhält es sich ähnlich. In den vergangenen Jahren sind infolge von "PISA" und "Bologna" große Umbrüche eingetreten, die nach dem Vorbild der Ökonomie zu einer Effizienzsteigerung des Bildungsoutputs führen sollen. Der damit einhergehende Stress für Kinder, Eltern und Lehrer wird vielfach beklagt. Und auch wenn es am Ende nur auf ein flaches Halbwissen hinausläuft, so wird doch das Ziel, immer mehr in immer kürzeren Zeiträumen zu lernen, ungemindert verfolgt. Auch der scheinbar autonom zur Verfügung stehende Bereich der Freizeitgestaltung unterliegt aufgrund der medialen Überflutung und der lockenden Werbungsversprechen der Freizeitindustrie der Herausforderung, eine Aktivität oder Reise oder irgendwie geartete Unterhaltungssequenz an die nächste anzuschließen. Begriffe wie Muße und Müßiggang werden dann schon eher mit Langeweile assoziiert und können kaum einen Eigenwert für sich beanspruchen. So dominiert die Schnelligkeitsfaszination unser gesamtes Alltagsleben.
Dabei wird allenthalben vergessen, dass das Schnellste, was uns jederzeit und allerorten zur Verfügung steht, unser Denken ist. Allein dieses gewährleistet, dass wir die Dinge der Welt unmittelbar zu erkennen und zuzuordnen in der Lage sind. Das Denken ist es, das unserem Dasein die Kontinuität unseres raum-zeitlichen Bewusstseins gibt. Allein nachts, wenn wir schlafen, zieht es diese bewusstseinsbildende Kraft zurück und schenkt uns die Gnade der Selbstvergessenheit, nur um am Morgen sogleich wieder genau dort anzuknüpfen, wo es sich am vorangegangenen Abend zurückgezogen hat.
Inzwischen ist allerdings der technologische Fortschritt so weit gediehen, dass die rein mechanische Seite des Denkens durch Computer kopiert und im Hinblick auf die Schnelligkeit sogar überstiegen werden kann. So konnte 1997 der Schachcomputer Deep Blue einen vielbesprochenen Sieg über den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow erzielen. Aber es handelt sich eben nur um die mechanische Seite des Denkens. Daneben existieren viele andere Denkleistungen, die von keiner Maschine auch nur annähernd erreicht werden können: Das Denken vermittelt uns unsere Bewusstseinsidentität, es versorgt uns mit Einfällen und Intuitionen, und es bildet immerwährend Urteile, die uns in unserem Verhältnis zur Welt sinnhaft positionieren.
Solche Werturteile, auch wenn sie scheinbar schnell im Alltag gebildet werden, benötigen ihrerseits eine lange biografische Reifezeit. Denn es ist die gesammelte Lebenserfahrung, die in den gewachsenen Urteilen eines Menschen zum Tragen kommt. Je mehr Reifung hier möglich gewesen ist, und je weniger wir uns zu schnellen "Vor"-Urteilen hinreißen lassen, umso mehr wird den Urteilen die Weisheit unserer Lebenserfahrungen zuteil. Hier geht es eben nicht um Schnelligkeit, sondern darum, dass wir uns ausdauernd und geduldig mit den Welterscheinungen verbinden, dass wir sie von verschiedenen Seiten betrachten und abwarten, in welchem Lichte sie sich selbst zeigen. Urteile sind umso werthaltiger, je mehr sie den in den Welterscheinungen gelegenen Gehalt selbst zur Geltung bringen. Dies führt zu einer Erkenntnis der Dinge, die sich der schnellen Subjektverfügung entzieht. So führt ein geduldiges und sich immer erneut erfahrungsreich mit den Welterscheinungen verbindendes Denken zur Einsicht in den Wirklichkeitsgrund der Dinge. Geduld wird zur Einsicht.
Quelle: Alnatura-Magazine/Jost Schieren
WAAGE - Zufriedenheit wird zu Gelassenheit
(Quelle: Alnatura-Magazine/Silja Graupe)
"Vom Sein-Lassen der Ziele Nach Meinung vieler Ökonomen soll sich alles menschliche Handeln darin erschöpfen, "nach Zielen zu streben, d. h. ein Ziel zu wählen und Mittel zu ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen" (Ludwig von Mises). Verinnerlichen wir diesen Grundsatz, so müssen wir die "Lizenz zur Zufriedenheit" darin sehen, Ziele zu verwirklichen. Ein gleichnamiges Buch aus der Flut an Erfolgsratgebern liefert das passende Bild. Mit Rädern und Schutzhelm ausgestattet, trägt eine Schildkröte auf ihrem Rücken eine Rakete, deren Lunte gerade wie von unsichtbarer Hand entzündet wird. Die Botschaft lautet: Überwinde deine Trägheit! Rase deinem Ziel entgegen, ohne je zur Seite oder gar rückwärts zu schauen! Sei erst zufrieden, nachdem das Rennen vorbei ist!
Es ist paradox: Wir sind beständig unzufrieden, nur um irgendwann zufrieden zu werden. Ein möglicher Ausweg ist, das Ziel-Mittel-Denken selbst loszulassen. Bei Menzius, einem alten konfuzianistischen Philosophen, findet sich hierfür eine schöne Metapher: Ein Bauer arbeitet täglich auf dem Feld. Mühselig zieht er an den Trieben, Halm für Halm, um möglichst große Pflanzen hervorzubringen. Doch genau auf diese Weise vertrocknet am Ende alles; jegliche Mühe war vergebens. Vor dem gleichen Problem, so Menzius, stehen wir, wenn wir allein auf die Ergebnisse unseres Handelns fixiert sind. Erst machen wir uns im Kopf eine feste Vorstellung. Sodann versuchen wir, die Wirkung unmittelbar zu erzielen. Doch schließlich ernten wir nichts als Frust und Enttäuschung.
Was aber ist Menzius’ Alternative? Gewiss meinen wir oft, die asiatischen Geistestraditionen würden statt zielorientierter Aktivität lediglich eine reine Passivität empfehlen. Doch Menzius’ Lösung besteht gerade nicht darin, am Rande des Feldes stehen zu bleiben. Ein guter Bauer zieht weder an den Trieben, sagt er, noch sieht er ihnen lediglich beim Treiben zu. Vielmehr begleitet er den Prozess ihres Wachsens: Je nach Situation hackt, jätet oder bewässert er. Er weiß um das Potenzial, welches aus der Vergangenheit stammt (dem Samenkorn in der Erde), und bereitet ihm in der Gegenwart lediglich die richtigen Umstände, bis es "wie von selbst" zur Reife kommt. Er übt sich in den Prozess des Werdens und Treibens ein, um achtsam mit ihm und an ihm zu wachsen. Er nährt die günstigen Faktoren und schwächt die ungünstigen – sowohl in ihm selbst als auch außerhalb von ihm. Am Ende ist dann zwar, wie man im Daoismus sagt, nichts gemacht, aber dennoch alles getan.
Mit Raketenantrieb und Lunte hat dies wenig zu tun. Eher schon mit den Flaneuren aus dem Paris des 19. Jahrhunderts, die Schildkröten zu ihren Wegbegleitern machten.
Statt durch die Stadt zu hasten, machten sie das verborgene Potenzial des langsamen Gehens fruchtbar, um zugleich sich selbst und die Stadt neu zu entdecken: Wer flaniert, kann nach links, nach rechts, nach hinten schauen. Er hat Zeit zu schmecken, zu fühlen, zu hören. Er kennt sich aus – und lässt sich doch jeden Tag aufs Neue überraschen. Was sich hier andeutet, ist eine bemerkenswerte Form aktiver Passivität: Weder verfolgt man ein Ziel, noch irrt man herum oder bleibt stehen. Man ist so gekonnt und achtsam tätig, dass man zu "einem schöpferischen Moment der sich selbst bestimmenden, schöpferischen Welt" (Kitaroˉ Nishida) wird. Jetzt und heute, nicht morgen oder übermorgen.
Zufriedenheit erwächst hier weniger aus einem Festhalten an Vorstellungen denn aus einer situativen, Selbst und Welt gestaltenden Tätigkeit: Man flaniert nicht, um zufrieden zu werden. Man flaniert zufrieden. Man tut nicht etwas, sondern man tut einfach. Wichtig ist, in dieser Einsicht nicht erneut ein Ideal zu sehen. Wir müssen sie tatsächlich üben. Erst dann verwandelt sich unser permanentes Streben nach einem zukünftigen Zustand der Zufriedenheit in die Praxis gegenwärtiger Gelassenheit: Wir können vorgefertigte Meinungen los- und überraschende Begegnungen zulassen sowie uns auf Neues und Unvorhersehbares einlassen. Die Zufriedenheit, die hieraus erwächst, ist nicht flüchtig. Sie entfaltet sich schöpferisch von Moment zu Moment und ist in diesem Sinne von Dauer. Zufriedenheit wird zu Gelassenheit.
Quelle: Alnatura-Magazine/Silja Graupe
(Quelle: Alnatura-Magazine/Manon Haccius)
"Die Tugend, die für den Monat September auf dem Übungsplan steht, ist die Höflichkeit. Höflichkeit als Tugend? Zunächst mag das überraschen, scheint es sich doch dabei um etwas sehr Alltägliches zu handeln, bei dem vielleicht die Frage entsteht, ob es sich dabei wirklich um eine Tugend handelt. Sie könnte eher als Gegenstand eines gedankenlosen Trainings erscheinen, nicht als etwas geistvoll und mit Überzeugung zu Erübendes. Alltäglich ist sie auch, die Höflichkeit – bietet sich doch jeden Tag wiederholt die Gelegenheit zu ihrer Ausübung. Wohl jeder bemerkt es auch, wenn diese Tugend zur Anwendung kommt. Ob es jedem immer gelingt, selbst höfliches Verhalten an den Tag zu legen, oder ob er beziehungsweise sie das überhaupt und in jeder Situation anstrebt, das ist dann schon eine andere Frage.
Ihrer ursprünglichen Wortbedeutung nach bezeichnet Höflichkeit das rechte Verhalten bei Hofe, also am fürstlichen oder königlichen Hof. Höflinge hatten höflich zu sein. Das liegt weit zurück. Als zeitgemäßere Definition führt das Lexikon "Brockhaus" (19. Auflage, 1989) an, Höflichkeit sei die "Form des Umgangs mit den Mitmenschen, die von gegenseitiger Achtung, Rücksichtnahme und der Einhaltung bestimmter gesellschaftlicher Konventionen (zum Beispiel Begrüßungsformen, als Ausdruck des Anstands und des guten Tons) geprägt ist." Wikipedia sagt zum Thema: "Die Höflichkeit oder Zivilisiertheit ist eine Tugend, deren Folge eine rücksichtsvolle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll. Ihr Gegenteil ist die Grobheit oder Barbarei." Sowohl der Verweis auf die Höflinge der Vergangenheit als auch der Hinweis des Brockhaus auf die gesellschaftlichen Konventionen und tradierte Formen des Umgangs mögen erklären, warum man Höflichkeit, die einem gegenüber zum Ausdruck kommt, gelegentlich mit leicht "gemischten Gefühlen" wahrnimmt. Einerseits ist es angenehm, wenn der Umgang höflich ist. Respekt drückt sich darin aus. Andererseits kann es sein, dass das bloß Konventionelle daran, das den überkommenen Formen des Umgangs und des Anstands Genügen ein wenig kühl berühren, unpersönlich wirken. Wie jede Konvention kann auch die Höflichkeit in überkommenen Formen, die nicht mehr von Leben erfüllt sind, erstarren.
Etwas fehlt da noch - der Herzenstakt zu dem die Höflichkeit durch bewusstes Üben hinentwickelt werden soll. Ein wunderbares, ein wenig altmodisch anmutendes Wort ist das: Herzenstakt. Übrigens kennen den Herzenstakt weder Brockhaus noch Wikipedia. »Man sieht nur mit dem Herzen gut«, sagt der kleine Prinz bei Saint-Exupéry. Das wird gerne zitiert und bringt regelmäßig ein Lächeln auf die Gesichter. Es ist den Menschen also keine Frage: Sehen kann das Herz.
Auch berühren; das bedeutet ja die lateinische Wurzel des Wortes Takt. Tactus heißt Gefühl, Berührung. Um wieder den Brockhaus zu zitieren: Takt bezeichnet das »Gefühl für richtiges Verhalten, Feingefühl im Umgang mit anderen Menschen«. Beim Takt geht es wie bei der Höflichkeit ebenfalls um richtiges Verhalten, jedoch nicht mehr um die bloß gelernte und insofern richtige äußerliche Form. Sondern es geht darum, dass die gewählte Verhaltensweise von innen kommt, letztlich von Herzen. Dass man erspürt, was in der jeweiligen Situation richtig ist, also nicht nur sozial akzeptiert und angemessen, sondern zwischen den Menschen in einer gegebenen Situation stimmig und passend.
Ein Umgang zwischen Menschen, der von Herzenstakt geprägt ist, verlangt Aufmerksamkeit und viel Gespür für die jeweiligen Zwischentöne. Mechanisch einüben kann man dies nicht. Denn hier gibt es kein Verhalten "nach Schema F". Vielmehr ist jede Situation neu und immer wieder anders. Üben jedoch kann man dies sehr wohl. Was setzt das voraus? Zunächst einmal den Willen zu einem entsprechenden Verhalten. Wachheit, echte Präsenz in der Situation. Selbstkritisches Reflektieren, wenn das angestrebte Verhalten nicht gelungen ist. Dies auf beiden Seiten der an einer Begegnung Beteiligten. Sowohl der "Sender" bei einem Austausch als auch der "Empfänger" tragen ja beide zum besseren und auch einmal weniger guten Gelingen einer Begegnung – und sei sie noch so kurz, auf dem Gang, im Vorbeigehen – bei. Dankbar wahrnehmen tut man es gewiss, wenn einem jemand mit Herzenstakt begegnet. Das gilt in besonderem Maße dann, wenn die Situation eine schwierige, nicht alltägliche ist, die gestaltet sein will.
Höflichkeit wird zu Herzenstakt – ein lohnendes Übungsziel für den Monat September, der im Sternzeichen der Jungfrau steht. Diesem Sternbild wird die besondere Fähigkeit zu einem genauen, feinen Empfinden nachgesagt, die rechte Voraussetzung dafür, den nuancierten Abstufungen zwischen Höflichkeit, Takt und Herzenstakt nachzuspüren und sich ihnen zu widmen".
Sonne-Ingress KREBS
Quelle: Alnatura-Magazine/Klaus Hartmann
"Wer das Leben als Weg auffasst und nicht als Ansammlung zufälliger Geschehnisse, die wir uns selbst zuschreiben, schätzt dessen erste Phasen anders ein als die späteren. Und das gilt auch im Kleinen: Die vielen Einzelwege, aus denen sich unser Leben zusammensetzt, besitzen typische Merkmale und haben teil an einem Universellen. Von jemandem, der etwas beginnt, erwarten wir Selbstheit (welche Attribute wie Selbstbewusstheit und -sicherheit, Selbsttätigkeit und -bestimmtheit mit umfasst). Das bedeutet Mut, Entschiedenheit und Entschlusskraft in der Initialphase. Wer ohne Willensanspannung und wenig ehrgeizig auftritt, dessen Ich gilt leicht nicht viel.
Auf dem Weg durch den Jahreskreis der zwölf Tugenden, der mit dem Mut zum Tun begann, ist man im Übergang der Monate Juni / Juli mit der Selbstlosigkeit an einem Wendepunkt angelangt. Hier geht der Jahreskreis zu Johanni (24. Juni) allmählich in eine entgegengesetzte, vom Umkreis zum Mittelpunkt strebende Bewegung über. Vorher, als es nach außen in die Welt, in den Umkreis ging, als die Tüchtigkeiten der Seele dem aufsteigenden Jahr in der Richtung des Frühlings folgten: vom Mut zur Verschwiegenheit des Keimens, die in der meditativen Kraft selbsttätig wird; von der Großmut, die den Umkreis des Erwartens öffnet; vom Unterwerfen unter das Geschehen der Entwicklung (den inneren Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten, auch der Offenheit zur Begegnung mit Widerständen und Hindernissen), begegnet man überall Werdeprozessen. Sie reihen sich aneinander und kommen in unseren Handlungen, der Biografie und den Naturgeschehnissen des Jahres zum Ausdruck.
Ist nicht das Auftauchen von Wärme – in diesem Frühjahr war es lange zu kalt – Opferkraft? Sind nicht auch Gleichgewicht und Fortschritt als Tugenden Universalien, die ich am Wachstum des Nussbaums in meinem Garten genauso beobachten kann wie an den stabilisierenden Rücksichten menschlichen Tuns? Es braucht Ausdauer für die letzten Wegstrecken eines gestalterischen Geschehens, und in der Treue gegenüber dem ehemals gefassten Ziel zeigt sich endlich das Gelingen. So kündet das Erreichen des frühsommerlichen Höhepunktes im Jahreslauf den Beginn der zweiten Hälfte der zwölf Tugenden an. Das menschliche Ich, das in Mut und Verschwiegenheit sich selbst gefasst, in Großmut und Devotion Hingabe geübt hat und in Gleichgewicht und Ausdauer zwischen Tätigkeit und Empfänglichkeit gereift ist, kann sich nun loslassen, ohne sich zu verlieren. Wo wir aber anderen den Vortritt lassen, ohne unser Engagement zurückzuziehen, treten unsere Motive, gereinigt von Subjektivität, hervor. Reinheit und Lauterkeit (katharos heißt griechisch rein, es steckt zum Beispiel in Katharsis und Katharina) kommen dabei den Zielen zugute, um deren Erreichen es uns geht.
Selbstlosigkeit und Katharsis sind allerdings nicht nur da zu beobachten, wo wir jenseits der Lebensmitte angekommen sind. Wir sehen sie schon bei den Kindern, wenn manche teilen, bis für sie selbst nichts mehr übrig ist. Wer sich so verhält und zurücksteht, wo unbekümmerter Egoismus sich drängelt, wird auch später noch oft für dumm gehalten. Eine Kultur der Selbstlosigkeit, die Eitelkeit, Ehrgeiz und Selbstsucht bekämpft, muss aber damit anfangen, diese im Bereich des eigenen Wesens sehen zu lernen, um das Retardierende allmählich abzustreifen.
Michelangelo hat seine wiederholten Beschäftigungen mit der Selbstlosigkeit, die empfängt und verzichtet und dadurch zur Reinheit führt, in den Darstellungen der Pietà herausgestellt. Die wohl berühmteste, die Pietà im römischen Petersdom, hat er als 23-Jähriger geschaffen; eine jugendliche Madonna, die den Leichnam des Gekreuzigten in den Armen hält. Dabei kannte Michelangelo die Entfaltung der Tatkraft eines David ebenso gut wie die Lauterkeit, die Empfangenes über den Verlust hinaus trägt. Selbst die größten Künstler der Renaissance verehren die Tugenden, etwa die Selbstlosigkeit und die Katharsis, als ein Ideal. Aber Ehrgeiz und Konkurrenz, wie andere Befangenheiten des Zeitalters, hindern sie vielfach noch, diese Ideale als Tüchtigkeiten in ihre Seelen hineinzuarbeiten. Nach Aristoteles sind solche Tugenden nicht angeboren. Man erwirbt sie und prägt sie sich in dem Grad ein, in dem man nach ihnen lebt".
STIER -
Wer hat denn die Tat begangen? Ein Mensch, der dafür auch die Verantwortung trägt, und nicht Gott! Werden die Lebenswege durch Gott ohne unser Zutun gelenkt? Wohl kaum, denn dann sähe die Welt sicher anders aus. Wären wir reine Naturwesen, so müssten wir uns, einem Tier vergleichbar, im Einklang mit "unserer" Gattung verhalten. Dann wären wir keine Menschen, die, jeder für sich ein eigener Kosmos, ihren Lebensweg mehr oder weniger bewusst gehen. Wir Menschen gestalten unsere Biografie durch unser Denken und Handeln selbst. Für alles, was wir tun oder unterlassen, tragen wir die volle Verantwortung.
Wir sind "in die Freiheit entlassen" und sammeln in dieser Aufgabe unsere Erfahrungen. Wir bemerken, dass wir unserem Leben selbst ein Ziel, einen Sinn geben müssen. Wir geraten immer wieder in unerwartete und herausfordernde Situationen, die wir »meistern« müssen. Oft sind wir unsicher, was wir in einer Situation tun oder lassen sollen. Wir wissen, dass wir initiativ sein müssen, wenn sich etwas ändern soll; denn ohne Freiwilligkeit gibt es keine Freiheit. Wir erleben täglich, wie schwer es ist, unser Leben im »Gleichgewicht« zu halten und den eigenen Vorsätzen zu folgen. Wir kennen die Frustration, wenn wir nicht konsequent sind und die selbst gesetzten Ziele aufgeben, weil es uns an Durchhaltewillen fehlt. Wir wissen auch, wie wir uns fühlen, wenn wir das eigene Versagen reflektieren und uns darüber ärgern oder eine kreative Ausrede finden, warum etwas nicht funktionieren konnte. Im Alltag erlebt jeder von uns immer wieder die Polaritäten, die uns aus der Balance bringen: Wir sind zu dick oder zu dünn, zu faul oder ein Workaholic, zu hektisch oder zu langsam, zu chaotisch oder zu penibel, zu pessimistisch oder zu optimistisch. Wir orientieren uns nur am "Eigenen" oder fantasieren wirklichkeitsentrückt über Scheingebilde. Maßhalten und eine Balance zu finden, die zu uns passt, ist eine große Herausforderung und Kunst.
In unserer Zeit gibt es immer mehr soziale und persönliche Phänomene, die uns die Notwendigkeit, das rechte Maß zu finden und das Gleichgewicht zu halten, in aller Deutlichkeit vor Augen führen: Sucht, Burnout, Lernschwierigkeiten bei Kindern – die Liste ließe sich leicht verlängern. Doch wie finden wir zur rechten Balance zwischen den Extremen?
Das Gleichgewicht einer Waage,
bei der sich auf beiden Seiten gleich schwere Gewichte und die Waagschalen in der Mittellage befinden, ist nicht starr und fix. Es pendelt sich ein, stellt sich nach einer Störung wieder ein. Beim »seelischen Gleichgewicht« geht es um die Frage: Wie komme ich ins Gleichgewicht? Das Gleichgewicht ist je nach Lebenssituation verschieden. Wenn ich den ganzen Tag im Garten gearbeitet habe und sonst im Büro sitze, kann ich mehr essen. Wenn mich eine Tätigkeit begeistert, kann ich länger und intensiver arbeiten, als wenn ich etwas tue, was ich innerlich ablehne. Täglich sind wir gefordert, uns neu ins Gleichgewicht zu bringen. Gelingt dies, nennen wir einen Menschen »ausgeglichen« oder sagen, "er ruht in sich". Diese innere Ruhe und äußere Gelassenheit sind zumeist in intensiver Arbeit durch das Ich errungen. Menschen, die ihr Gleichgewicht gefunden haben, führen ihr Leben bewusst. Sie haben für ihr Leben einen Sinn entdeckt und eine Orientierung für sich entwickelt.
Die wichtigste und wesentlichste Orientierung unseres Lebens hängt mit unserem Wirklichkeitsverständnis zusammen. Wir können beobachten, dass uns unsere Sinne bloß Wahrnehmungen liefern, die unzusammenhängend sind und uns noch kein "Wissen" von der Wirklichkeit vermitteln. Erst wenn wir mit unserem Denken die Begriffe zu den Wahrnehmungen hinzufügen, erkennen wir die Welt. Der uns durch unsere Sinneswerkzeuge verwehrte Zugang zur Idee wird durch unser Denken erreicht, indem wir die Idee dessen, was wir begreifen wollen, im Denken erfahren. So begegnet unser Geist dem Geistigen, das in den Dingen wohnt. Dies ist die "Urerfahrung" des Gleichgewichts, das wir selbst herstellen müssen und das uns den Geist, der in den Dingen lebt, erfahren lässt.
Das "Finden der Wirklichkeit" im produktiven Erkennen ist nicht selbstverständlich. Wir müssen die Mitte zwischen Wirklichkeitssucht, der Überbetonung der Wahrnehmungsseite, und Wirklichkeitsflucht, dem Träumen in der Ideenwelt, durch bewusste Erkenntnis finden.
Diese Urerfahrung bringt uns zum Bewusstsein, dass wir sowohl eine "produktive" als auch eine "konsumtive" Wesensseite haben. Die Sinneserfahrungen treten ohne unser Zutun auf, die Begriffe und Gedanken bringen wir aktiv und bewusst hervor. Herbert Witzenmann spricht in diesem Zusammenhang von dem Eindrucks- und Ausdruckswesen des Menschen. In unserer Zeit überwiegt das Eindrucksparadigma. Kinder, Studenten und "Auszubildende" sollen Wissen aufnehmen und reproduzieren können. In ihrer lernfreien Zeit lassen sie sich von Bild- und Toneindrücken überfluten. Dies führt zu einem Ungleichgewicht. Es fehlt die Möglichkeit sich auszudrücken, den Menschen und sich selbst zu zeigen, dass man etwas gestalten kann, dass man beitragen kann. Krankheitssymptome wie beispielsweise ADHS-Schwäche gründen in diesem Ungleich-gewicht.
Die Wirklichkeitserfahrung, Gleiches durch Gleiches zu erkennen, ist das Gleichgewichtserlebnis, das zum Fortschritt wird. Wir schreiten in unserer Erkenntnis fort, indem wir die Welt immer besser erkennen und tiefer verstehen. Damit können wir in unserem Handeln den Wesen immer besser entsprechen und zu ihrer Entwicklung beitragen. Das Suchen nach unserem geistigen und seelischen Gleichgewicht ist die Quelle des Fortschritts, in der Gestaltung unserer Biografie und in der Gestaltung unserer Erde."
Quelle: Alnatura-Magazine/Prof. Dr. Götz E. Rehn
FISCHE – Großmut wird zu Liebe.
(Quelle: Alnatura-Magazine/Wolfgang Gädeke)

Quelle: Alnatura-Magazine/Manon Haccius:
("Die Zuordnung der Tugenden zum Tierkreis stammt von H. P. Blavatsky... die Ergänzungen «wird zu ...» gehen auf Rudolf Steiner zurück.")
Ohne Mut gibt es keine Entwicklung.
Das Wort Courage bedeutet Mut und wird in Deutsch, Englisch, Französisch und Niederländisch gleichbedeutend verwendet. Es geht auf den Wortstamm "Coeur" zurück, was Herz bedeutet. Wer mutig ist, folgt seinem Herzen, er folgt seinem Ich ohne Kompromisse.
Ohne Mut gibt es keine Entwicklung. Nur wenn wir mutig unsere Grenzen überschreiten, lernen wir Neues kennen und können Veränderungen in der Welt bewirken. Insofern steht der Mut am Anfang aller Entwicklungsprozesse. Indem wir erleben, dass die Aktivitäten, die wir unternehmen, von der Welt angenommen werden, wir also in unserem Tun bestätigt werden, entwickelt sich der Mut. Wir wagen in Zukunft mehr und loten unsere Grenzen, aber auch die Entwicklungsmöglichkeiten unseres Handlungssubjekts oder -objekts aus.
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